Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
alles Wichtige vermeiden; es ist nur irgendein Jemand, jeder ist nur irgendein Jemand, sie denkt an die Lächerlichkeit dieses Sich-Kennens, das kein Kennen ist, nur ein gemütliches interesseloses und immerzu zu jeder Gemeinheit dem anderen gegenüber bereites Nebeneinanderhertreiben.
Die Straße öffnet sich zu dem Platz mit dem Denkmal des antisemitischen Bürgermeisters, drüben am Museum für Angewandte Kunst hängt ein Transparent mit der Aufschrift Widerstand , so wie auf der anderen Seite der Ringstraße, am Gebäude der Kunstakademie am Schillerplatz, ein Transparent mit der Aufschrift Widerstand hängt und dort noch einige Jahre lang hängen wird, wann immer du dann daran vorbeigehst oder mit dem Rad oder einer der Ringstraßenbahnen vorbeifährst, wirst du an den Februar und März des Jahres 2000 zurückdenken, so als wäre alles, was folgt, nur die Nachgeschichte dieser wenigen zerstörerischen und auf seltsame Art zugleich wunderbaren Wochen (im Nachhinein ist alles richtig; alles ist richtig und alles ist wunderbar, weil es wunderbar hätte sein können, trotz allem, was folgt; weil das Wunderbare verborgen ist in diesen Verwandlungen der Stadt, in der du später immer noch leben wirst; trotz allem, was folgt: auch wenn in Wirklichkeit alles furchtbar ist, auch wenn du in zwei Wochen vor Monas blumengeschmücktem Sarg stehst, mit einer Kamera in der Hand; auch wenn die Stadt grau bleibt und der Druck über dem Land nie mehr enden wird). Sie biegen auf die Ringstraße ein und bewegen sich nun, so wie normalerweise der Autoverkehr hier läuft, in Richtung Schwarzenbergplatz und Oper; in Gegenrichtung zu der inoffiziellen Demo des ersten Tages. Du siehst diesen Haufen Leute aus einem anderen Tag euch entgegenkommen, dich selbst in diesem Haufen von Leuten, erinnerst dich an diesen Zustand oder wie es dir jetzt erscheint, diese Vorstellung eines Zustands vor kaum drei Wochen: du kannst dir aussuchen, wer du bist, nichts hält dich; du hast keine Vergangenheit und keine Zukunft (Mona kann das, sich aussuchen, wer sie ist, aber hat es denn eine Bedeutung, wenn es eine nur für sich durchspielt?). Du hast eine Vergangenheit, kannst jeden Moment mit dieser Vergangenheit zusammenstoßen, hast womöglich sogar eine Zukunft. Am Stadtpark vorbei zieht ihr zum Schwarzenbergplatz und stoßt hinter der Biegung nah dem Hotel Imperial auf die Absperrungen und die Kordons vermummter Polizisten. Es ist noch lange vor Beginn des Balls und der Ankunft der Ballgäste, und ihr seid auch noch einige Straßen von der Oper entfernt, es scheint aber, dass dieses Anstoßen an einer Grenze eine Art von physikalischer Wirkung hat, die Demonstration zerstreut sich seltsam schnell in viele Einzeldemonstrationen, eine Bewegung entsteht, als würde eine Wasserfläche in größere und kleinere Ströme zerlaufen. Die Demonstranten scheinen nun gleich viel weniger, andererseits ist nicht mehr genau zu sagen, wer Demonstrant ist und wer nicht, ein unklares Feld mit schwankenden Grenzen, mit Punkten der Massekonzentration und dann wiederum großen Leerstellen entsteht. Sie fragt sich kurz, ob sie gleich nach Hause fahren soll, aber wozu, um sich schlafenzulegen, zu träumen, den Traum jeder Nacht, denn sie weiß jetzt, dass sie jede Nacht in die gleiche Traumwelt zurückkehrt, zu denselben Stimmen und Orten, und alle ihre Träume spielen in einer Zeit, in der es diese Stadt nicht gibt. Sie bleibt, läuft durch die Straßen, ohne zu wissen, wozu, und ohne darauf zu achten, wohin sie läuft.
Sie ist auf einer Parkbank gesessen, frierend, mit rotem Gesicht, dann ist sie herumgelaufen, ohne Ziel, aber doch, so scheint es, immer in einem ganz bestimmten Bereich bleibend, dem Bereich eines unklaren Spannungsfeldes, da und dort liegen Absperrgitter herum, als sollten Baustellen umzäunt werden, oder auch einfach rotweiß gestreifte Latten. Mit Polizisten in der Nähe oder auch nicht. Eine Zone rund um die Oper ist großräumig abgesperrt, es ist nicht klar warum, Polizeiautos stehen an der Absperrung, Leute mit Handys und womöglich altertümlichen Funkgeräten, Zivilisten in Jeans und Daunenjacke, Zivilisten im Anzug, Polizisten in Leder mit Motorradhelmen. Sie denkt an einen Anschlag, einen völlig unbemerkten, vielleicht unwahrnehmbaren Anschlag. Gleich könnte innerhalb der Zone alles ausgelöscht sein. Sie steht, neben ein paar anderen Gaffern, nah an der Absperrung, der Polizist, der sie sichert, redet mit irgendeiner aufgeregt
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