Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
schnatternden Frau mittleren Alters, das heißt, er zuckt ab und zu mit den Achseln, die Pistole an seinem Gürtel ist beinah in ihrer Griffweite. Ein wenig hofft Mona auf die Katastrophe, ein wenig hofft sie, die ganze Stadt könnte vor dem Zusammenbruch stehen, sie weiß nicht genau, ob das ihre eigene Hoffnung ist. Irgendwann hört sie das Trommeln und Tröten, vom Schwarzenbergplatz her nähert sich eine Riesenmenge von Leuten, hätte sie nicht diese Schwere in sich entdeckt, könnte sie durch die Menge hindurchtanzen. Ihre Schwester herauspicken, die sie nicht sehen würde, selbst wenn sie ihr eine Viertelstunde lang in wenigen Metern Entfernung folgen würde. Beinah ist die Leichtigkeit zu ihr zurückgekehrt. Sie könnte sich eine Regel ausdenken, dank dieser Regel zu einer Entscheidung kommen, Kopf oder Zahl, die Entscheidung fällt außerhalb von ihr.
Eine Zeit lang bleiben die Leute vor der Absperrung stehen, mit dem Ehrgeiz, den Lärm, die Musik ihres Lärms (so versuchst du es zu verstehen), des Trommelns, des Schlüsselrasselns und Trompetens immer weiter zu steigern, sie stellt sich jemanden vor, der sich immer schneller im Kreis dreht, immer schneller und immer schneller und so den Raum mit all seinen Mauern und Grenzen, dem angeblichen Boden, dem angeblichen Himmel zum Verschwinden bringt, die Vorstellung gefällt dir. Gleichzeitig aber beginnt sich in den hinteren Reihen der Demonstrationszug aufzulösen oder zumindest in dünnere Ströme zu zerfallen, die links und rechts in Seitengassen hinein ablaufen; vorne stehen die Polizisten starr da, schauen starr vor sich hin, ganz langsam gehst du am Rand des Zuges entlang, an den schweigenden oder (wie dir scheint) sinnlose Gespräche führenden Leuten vorbei, ein paar der Demonstranten tragen Karnevalsmasken oder dicke Clownsschminke im Gesicht. Sie tut so, als würde sie niemand bestimmten suchen, als würde sie nicht wissen, dass irgendwo unter diesen Menschen auch ihre Schwester ist, sicher nicht schreien (das kann sie nicht), aber dastehen, es für wichtig halten dazustehen, es ist nicht wichtig, dass man da steht. Da oder dort steht. Erst später, beim Herumlaufen durch die Straßen, die zweite Zone außerhalb der Absperrung, wird dir deine Schwester wirklich begegnen.
Zweimal wird er angeschaut, er oder etwas hinter ihm, er versucht, Unterschiede in diesen Blicken zu sehen, vielleicht herauszulesen, welche die Tote ist, irgendwelche geheimen, aber unabweisbaren Zeichen könnten doch zu sehen sein (gibt es nicht oft in Fotografien von Toten Erkennungsmale, die der wirkliche, lebendige Mensch überhaupt nicht besitzt?). Ein Blick, der das Muster durchbricht, sich aus dem Raum der Fotografie (die nackten Arme, die Körper in den Kleidern oder in Jeans und T-Shirt, die zu anderen, fremderen Pflanzen werden, die Pflanzen, die zu anderen, fremderen Körpern werden) zurückzieht in einen unbetretbaren anderen Raum. Eines der Mädchen (du könntest nicht sagen, welche die jüngere ist) hat etwas härtere Gesichtszüge, etwas deutlicher hervortretende Backenknochen, einen etwas schmaleren Mund, etwas hellere Haare, all das aber sind bloß in irgendeinem altmodischen Roman verwendbare Merkmale, nichts, das ihm weiterhilft.
Eigentlich sieht er nur Schwestern, kein einzelnes Mädchen, für ihn sind sie immer nur gemeinsam vorhanden, so wie auch auf keinem der Fotos eine von ihnen allein zu sehen ist. Sie wirken behütet, aber auf eine unwahrscheinliche Art und Weise, die kaum etwas mit dem zu tun hat, was man als Familie kennt; so als würden die Zusammenhänge in dieser Welt durch das Licht geknüpft, Berührungen, Umarmungen, Gespräche wären vom Ton, vom Einfall, von der Farbe und Intensität des Lichts abhängig (also von Blicken? von jemandem hinter der Kamera, jemand hinter der Kamera Verstecktem? oder ist dieser Jemand gerade nur eine beliebige Spielfigur?).
Anderswo läuft die Zeit weiter, hier nicht, Sommer für Sommer.
Es ist reizvoll, sich mit den Mädchen zu identifizieren, sich für eines von ihnen, nein, eben nur für beide zugleich, zu halten oder für das Gespenst eines zarten, eines ganz besonders zarten, weil unsichtbaren Bruders oder Geliebten, mit dem die eine so gut wie die andere spielen kann, ohne dass er je stört, indem er ins Bild tritt; er ist hinter der Kamera versteckt, während seine Phantasien wie kleine Schatten durchs Bild laufen. Es ist reizvoll für einen Mann, einen alten Mann, einen alten alleingelassenen Mann, einen
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