Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Wirklichkeit herauszuklicken mitten in der Zeremonie herausholen, Foto um Foto knipsen, so lange bis die Anzeige in dem kleinen Fenster auf 1 steht, und dabei wissen, dass sie diese Fotos niemals anschauen wird, sie wird sie niemals vernichten, aber auch nie anschauen, nicht einmal entwickeln: so als wollte sie durchs Fotografieren den Moment aufhalten, nicht festhalten, sondern aufhalten. Vom Begräbnis selbst wird eine rein formale Erinnerung in ihr zurückbleiben: der zeremonielle Ablauf, Bruchstücke aus der Predigt des Pfarrers (der naturgemäß rein gar nichts von der Toten gewusst haben und von der Art ihres Todes nur in entsetzlich gequälten und verfehlten Andeutungen sprechen können wird), die Anordnung der Kränze und der Trauergäste, die Hände, die sie schüttelt, es gibt keinen Leichenschmaus, sie hat ihre Mutter daran gehindert, einen Leichenschmaus zu organisieren. Was sie gefühlt hat (wenn sie etwas gefühlt hat), ob sie geweint hat, ob ihre Mutter, neben der sie herging, geweint hat, wird sie niemals wissen. Bald werden die Träume von Mona kommen, anders als die von ihrem Vater, seltsam neutrale Träume, ohne beglückende Versöhnung und ohne Verzweiflung, jeden Morgen wacht sie ratlos auf.
Sie bewegt sich elegant und schattenhaft zwischen den schwerfälligen Menschen, mit zwei Fingern, wie eine Taschendiebin, kann sie aus jeder Jacken- oder Hosentasche holen, was sie möchte, sie will nichts aus Jacken- oder Hosentaschen holen. Sie schaut nicht auf die Pistole, sie schaut auf alles andere als die Pistole und doch ist nichts als die Pistole in ihrem Bewusstsein: ihr Bewusstsein ist konzentriert, ihr Körper, in den ihr konzentriertes Bewusstsein geschlüpft ist: die Welt ist zusammengeschrumpft und konzentriert in einen Pistolengriff. Ich brauch bald ein Bier, mir tut schon alles weh, sagt jemand ganz nah an ihrem Ohr zu jemand anderem, der knapp hinter ihr steht.
Dir tut gar nichts weh.
Sie ist trotzdem überrascht, dass es ihr gelingt, es ist, als würde die Pistole von selbst aus dem Halfter am Gürtel des Polizisten in ihre Hand schlüpfen, sie ist überrascht über die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der sie all die Gesten, die sie noch nie zuvor ausgeführt, höchstens in Filmen gesehen hat, beherrscht, sie ist überrascht, dass niemand sie aufhält, sie kaum jemand zu bemerken scheint, als würde sie sich auf einer anderen Ebene bewegen, schnell wie eine Fliege, wie ein Gespenst; als wäre sie schon ein Gespenst; dabei sind die Gesichter ganz nah, die Polizisten ( ihr Polizist), der Typ mit der Kamera und sein Begleiter, die Demonstranten, ganz nah und ganz deutlich, schmerzlos nah und deutlich, so wie sie selbst sich schmerzlos nah und deutlich wahrnimmt, ganz in sich eingebettet, ganz Fleisch, ein Stück Mensch, ein ganzes, in sich verschlossenes, in die Welt eingesetztes Stück Mensch. Langsam wendet sie sich um, die Verhafteten werden unter Protestrufen aus dem Publikum in das Polizeiauto geschoben, die Kamera wird ausgeschaltet, die ersten der Zuschauer oder Demonstranten, wenn sie noch Demonstranten sind, gehen schon: werden noch etwas herumlaufen, um zu schauen, ob es noch Action gibt, denkt sie, oder noch etwas trinken gehen (mir tut schon alles weh) oder nach Hause, schlafen. Ihr Schafe.
Vielleicht ist es gemein von dir, dieser Polizist ( dein Polizist) ist ganz jung. Noch ehe er merkt, dass ihm etwas abhanden gekommen ist, ist sie verschwunden, in einem Haustor, das hinter ihr nachgibt, sie steht in einem dunklen muffigen Hauseingang mit Anschlagtafel und Briefkästen und einer Glastür zum Innenhof und hat die Waffe an ihre Schläfe gerichtet, endlich, sagt sie sich. Dennoch ist sie ein wenig überrascht, dass es ihr gelingt, wie leicht es ist, sie ist überrascht über die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der sie all die Gesten, die sie noch nie zuvor ausgeführt, höchstens in Filmen gesehen hat, beherrscht, ihre Finger am Abzug. Das Haustor öffnet sich, im Licht einer Straßenlaterne sieht sie noch die Gestalt eines Polizisten, die Gestalt von jemandem, der sich ans Dunkel hier gewöhnen muss, der nicht weiß, was los ist.
Er steigt nach ein oder zwei Tagen ins Auto und gibt die Adresse ins Navi ein; er erwartet nichts, er ist überhaupt nicht in der Stimmung, etwas zu erwarten. 37 Minuten, sagt, sobald er aus der Garage hervorgetaucht ist, das Navi, das keine roten Ampeln kennt, die Fahrzeit erstaunt ihn; in welcher Falte des Stadtplans ist diese Adresse (dieses
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