Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Haus, das er sich alleinstehend und fremd in seiner Modernität zwischen Hecken und Gartenzwergen vorstellt) verborgen. Das Fahren tut ihm gut, es ist wie Schlafen, seit er, satellitennavigiert, sozusagen blind fahren kann, noch viel mehr als früher. Das Lenkrad in den Händen halten, den Schalthebel, bewusstlos dem Verkehr folgend schalten und lenken, bewusstlos lenken, einer Stimme und einer Linie auf dem Display folgend, bewusstlos schalten. Wie ein Kind, das plötzlich auf den Fahrersitz gerutscht ist; es ist ein Nachträumen kindlicher Autofahrten vom Fahrersitz aus, wieso hat er sich, damals, vor Wochen, darauf eingelassen, U-Bahn zu fahren.
Er parkt, knapp bevor ihm das Navi ein Abbiegen in die sogenannte Zielstraße verspricht, etwas abseits, in der Hoffnung, das wäre unauffälliger, merkt, dass er in die Zielstraße sowieso nicht einbiegen hätte dürfen und verirrt sich beinahe noch. Er wandert lange über Kieswege und findet sich vor einem kahlen, vergleichsweise neu wirkenden Zaun, hinter dem, fast ohne Abstand, ein kleines sechzig oder siebzig Jahre altes, seit sechzig oder siebzig Jahren nicht renoviertes Siedlungshaus steht; er denkt an den Garten, das Licht, das durch Jalousien fällt, die Räume, die er sich vorgestellt hat, aber was sollte dieses Haus denn mit dem anderen Haus verbinden; er zögert zu klingeln.
Die Hausnummer stimmt jedenfalls; eine weiße Stelle an der Mauer verrät, dass hier eine Zeit lang ein Messingschild gehangen haben muss. Sein Finger drückt auf den Klingelknopf, er zweifelt noch einige Zeit lang, ob er wirklich an der richtigen Tür geläutet hat, aber ist es nicht gleich schon egal: so ängstlich ihn der kleine dünne weißhaarige Mann, der ihm öffnet, auch anzuschauen scheint, er hat sofort ein ihm unverständliches Vertrauen zu ihm gefasst. Die Räume, in die dieser Greis ihn weiterbittet, sind so vollgeräumt mit Zeug, dass nichts zu sehen ist; ein Schicht für Schicht übermaltes Bild. Ein Raum scheint die Küche zu sein; an einem kleinen Tisch nehmen der alte Mann und Walter Steiner einander gegenübersitzend Platz, dann beginnst du gleich zu erzählen und zu reden, der alte Mann nickt ab und zu, oder du fasst irgendetwas in der Bewegungslosigkeit dieses Kopfes als ein Nicken auf, warum redest du so viel, du hast noch nie so viel geredet; während du in dem an deinem Computer begonnenen Text nach der ersten Nacht keinen Satz weitergekommen bist, entwirfst du hier ein, wie es scheint, so weit wie möglich vollständiges Bild der letzten Wochen und der damit verbundenen Phantasien und Pläne. Sogar über Herbert redest du, wünschst Herberts Tod und nippst zwischendurch am Kaffee, der plötzlich vor dir auf dem Tisch steht. Einmal taucht ein schöner junger und völlig nackter Mensch in der Tür auf und lächelt Walter zu, im Nachhinein kann er sich schwer erklären, dass er sich nicht erinnert, ob der Mensch ein Mann oder eine Frau war.
Ein süßlicher Geruch liegt in der Luft, der Duft des Kaffees kann ihn nur schwach übertönen, der alte Mann (der allerdings vielleicht nicht älter ist als du) ist mit seinem Stuhl bis an die Wand zurückgerutscht und scheint knapp an dir vorbeizuschauen; auf einen Punkt, den du, ohne Beunruhigung, hinter deinem Rücken spürst, würdest du dich umdrehen, wäre da nichts.
Es kann doch nicht sein, dass dieses Mädchen tot ist, sagt Walter Steiner, auf ein durchsichtiges Plastiksäckchen voller Schrauben starrend, und merkt, er redet wie zu einem Therapeuten oder Priester; er redet und benimmt sich so, als würde er wegen dieser Sache einen Therapeuten oder Priester brauchen; weil eine junge Frau, die er nicht kennt, vor langer Zeit gestorben ist. Wegen eines Lebens, das nichts mit seinem zu tun hat, sein Leben ist in Ordnung oder nicht mehr von Belang.
– Suchen Sie nach einer Tänzerin, die sich – (es klingt wie eine Automarke, der Gott einer halbgaren halböstlichen Religion, eine Verzweiflungsinternetfirma) nennt, sagt der alte Mann und kritzelt den Namen auf einen Zettel. Sie ist nicht besonders bekannt, aber Sie werden sie finden. Sonst gebe ich Ihnen keine Ratschläge. Ich könnte Ihnen etwas zeigen, aber ich glaube, Sie sehen schon genug.
Er versteht, er sähe schon wenig genug , in dem vielen, was zu sehen ist. Er fühlt sich hinausgeworfen, aber er glaubt auch, den alten Mann, seinen Gastgeber, freundlich lächeln zu sehen. Er fühlt sich wie ein Kind, er versteht nichts und wird mit einem Lächeln belohnt. Er
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