Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
steht vor der Tür draußen, auf dem Kiesweg; vielleicht ist er ein Kind, nichts von seinem erwachsenen Leben ist noch da (nun gut, abgesehen von der Wohnung und dem Auto). Die letzten Jahrzehnte haben sich blitzschnell verkapselt, so treiben sie irgendwo durch den leeren Raum und gehen ihn nichts mehr an. Er findet zu seinem Auto, seine Erinnerungen sollen endgültig wegtreiben, er kuschelt sich in seinen Autositz, in die Membrane der Welt, Lichtstrahlen streicheln ihn wie ein Lächeln. Seine Erinnerungen sollen wegtreiben und fort bleiben, die Leerstelle soll verschwinden, er wünscht sich in diesem Moment, nie mehr etwas von Pre zu hören und (als wäre dies seltsamerweise ein und derselbe Wunsch) auch die Stimme dieses Herbert aus seinem Kopf zu bekommen, diese Reststimme aus der menschlichen Gesellschaft. Andauernd sterben Leute wie Herbert einfach so auf der Straße oder unauffällig in irgendwelchen Abstellkammern von Krankenhäusern oder, kaum eingeliefert, in den Notaufnahmen, Leute wie Herbert sind fast nur zum Sterben da, Leute aus der Außenwelt, die deinen Weg kreuzen (er merkt seinen Wunsch, ekelt sich vor sich selbst und startet den Motor).
Sie nimmt den Film aus der Kamera, steckt ihn in die Filmdose, die andere Filmdose liegt auf ihrem Schreibtisch, sie kippt ein paar Bücher im Bücherregal nach vorn, schiebt die Dosen dahinter, in den Staub, stellt die Bücher wieder gerade, neue Schichten von Staub werden sich sammeln, fünfzehn Jahre wird sie noch in dieser Wohnung bleiben, allein, die Bücherregale werden sich über die Wohnung ausbreiten, bis in das Zimmer hinein, das Monas Zimmer war, der Staub in den Regalen, die Fotos werden an ihrem Platz bleiben, unsichtbar, beinah (aber niemals ganz) vergessen. Sie braucht die Fotos nicht, um an Mona zu denken; sie braucht nichts, das ihr Gedächtnis stützt, keinen Schein einer gesicherten Erinnerung, um die Wunde zu schließen.
Irgendetwas ist zu erwarten, ihr scheint nicht, dass Mona wirklich begraben ist; in den ersten Tagen nicht und nicht später.
Sie sieht die Jahrzehnte vor sich, die Mona noch hätte leben können, die unendlichen sich verzweigenden Wege ihrer möglichen Leben; sie sieht Mona (die die ganze Welt war, eine Welt voller möglicher Leben), als hätte sie sich selbst den halben Körper amputiert; als gäbe es einen Körper über die Zeit, die Jahrzehnte hinweg, und Mona hätte sich, so wie ihr Vater, aus purem Mutwillen, aus Starrsinn einen Gutteil davon weggeschnitten.
Dieser abwesende Körper der Jahrzehnte, die Mona hätte leben können, vielleicht nicht als sie selbst.
Gleichzeitig begreift sie zu gut. Sie sieht die sich verzweigenden Wege ihrer möglichen eigenen Leben und all die abgeschnittenen, aus Lahmheit, Angst, Begriffsstutzigkeit abgeschnittenen Wege, und dahinter eine große Leere.
Vor dem Hintergrund dieser Leere liest sie ihre Bücher, vor dem Hintergrund dieser Leere lernt sie neu, sich zu bewegen, mit Menschen zu sprechen, sich Menschen (den Blicken der Menschen) zu entziehen, zu denken und zu hassen. Es gibt keinen besonderen Blick. Sie hat den leeren Raum gesehen.
Manchmal sitzt sie bei Tisch, schaut auf das Stück Brot auf ihrem Teller, als könnte es gleich zu reden beginnen; oder sich gleich bewegen, sich ganz leicht anheben, fast unmerklich verrutschen, das Brot, der Teller, während sie sie anschaut, durch ihren Blick, ihrem Blick entgegen, gegen ihren Blick.
Immer ist es Sommer, du trägst ein kurzes Kleid, ein so kurzes Kleid, dass du dich nackt fühlst, sobald du den Garten verlässt, das Türchen hinter dir zuschlägst, den Kiesweg lang gehst bis zur Einmündung des kleinen Bachs und dann auf dem Waldweg, den Hügel abwärts, den Spuren folgst. Du weißt, dass du den Spuren folgst. Deine Schritte sind ganz leicht, keine Dornen, die dir die sonnengebräunten Arme und Beine zerkratzen, das Kleid zerreißen würden. Du tauchst in das Dickicht ein wie in einen Teich. Niemand ist in der Nähe, nur dieser Blick, wie ein Lichtstrahl, der durch den Wald, das Dickicht, die Siedlung dringt, in den Garten, ins Haus hinein (den Ort, der nicht zu halten ist), durch die Jalousien an den großen Fenstern hindurch, auf die Parkettböden, die Sofas, eine Zeichnung, die sich auflöst. Dieser Blick, der dich nicht hält und der nur sieht, dass du nicht zu halten bist. Während du immer wieder zurückkehrst, das Dickicht, die Nacht durchschwimmst mit deinem Körper, der hier draußen, in dieser Nacht immer nackt ist
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