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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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und wie halbiert, dann vor dem Baum stehst, vor dem Ast, es riecht nach Verwesung. Du drückst den Kopf in das Kissen, das nach Schweiß und deinem bitteren Speichel riecht. Keiner sieht dich. Du bist das nicht.
    Du kannst dich im Traum nicht an das Gesicht deines Vaters erinnern. Du siehst ein Kindergesicht an seiner Stelle. Ach, möchtest du sagen (als hättest du gerade einen winzigen kindlichen Kummer begriffen), ach so, und ihm beruhigend über das Gesicht streichen. Wäre da nicht der Baum, der Ast, der bekannte Weg, wüsstest du nicht in jedem Moment, dass der Moment nur einen anderen Moment ersetzt.

VI
(Zonen)
    Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist er in einem Tanztheaterstück, er ist ganz zufrieden damit, dass er mit seiner Kleidung und seinem Aussehen nicht weiter befremdlich wirkt, auch wenn ihm scheint, kaum einer der anderen vielleicht fünfundzwanzig Zuschauer ist älter als vierzig oder fünfundvierzig Jahre. Vielleicht eine verknöcherte Frau mit glühenden halbwahnsinnigen Augen ganz rechts in der ersten Reihe, für Momente hat er Angst, sie könnte die Tänzerin, sie könnte die Frau sein, die er sucht und die sich, wie in manchen Avantgardestücken zu seiner Zeit, im Publikum versteckt hielte, aber er rechnet nach, nein, die Frau von den Fotos ist sicher nicht älter als vierzig, und als sie gleich im Scheinwerferlicht auf der Bühne zu sehen ist, allein, so wie sie angeblich immer auftritt, glaubt er, sie wäre noch um einiges jünger. Er fragt sich in den ersten Minuten, ob er sie wiedererkennt, ob er erkennt, welches der Mädchen diese Tänzerin ist (als würde er die andere zum Tode verurteilen).
    Auf der Bühne, wenige Meter von ihm entfernt, liegt eine Frau in einem weißen Hemd. Als wäre er noch nie in einem Theater gewesen, beschleicht ihn ein Gefühl für das Ungehörige dieses Daliegens. Ihre Haare sind zu einem Zopf gebunden, einzelne Strähnen hängen ihr frei ins Gesicht. Sie bewegt sich nicht, minutenlang, dann scheint es, sie würde ganz leicht mit einem Bein zu zucken beginnen. Ihre Augen sind weit offen, ohne zu blinzeln. Ab und zu ist ein Hüsteln aus dem Publikum zu hören; dann setzt, zuerst kaum merklich, ein irritierender Ton ein. Ein Sirren, das seine Quelle im Kopf des Zuschauers haben kann; auch wenn gleich deutlich wird, dass es doch von außen kommt, der Kopf des Zuschauers ist von der Außenwelt nicht mehr ganz zu unterscheiden. Es wird dunkel, das Sirren wird lauter und ungleichmäßiger, geht in eine Art von elektronischen Störgeräuschen über. Eben noch hat er sich ein wenig gelangweilt; nun beginnt er vor Aufregung zu zittern. Für Sekundenbruchteile erscheint die Frau auf der Bühne in einem blauen Scheinwerferlicht: die nackten Arme und Beine, der Körper im weißen Männerhemd, das nackte Gesicht mit den weit offenen Augen, das er jetzt wiedererkennt, aber, wie er meint, nicht allein von den zu oft und zu lange und zu alleine angeschauten Fotografien her. Für einen Moment scheint ihm, er wäre in ein Foto – in ein ihm noch unbekanntes Foto, das Foto aller Fotos – hineingestiegen, eine andere Existenzform hätte von ihm Besitz ergriffen, er würde in einer ihm unbekannten Zeit leben.
    Die elektronischen Störgeräusche sind ohrenbetäubend laut. Die Frau steht jetzt da, mit gespreizten Beinen, gespanntem Nacken und sozusagen in den Boden gekrallten Zehen. Sie öffnet den Mund und holt mit einer sehr langsamen Bewegung ein rohes Fleischstück, das auf ihrer Zunge liegt, heraus. Er sieht die gekrümmt aus dem Mund herausstehende fleischige Zunge und meint, er habe noch nie eine Zunge gesehen. Er sieht in dem merkwürdigen Licht wie aus großer Nähe die Poren auf diesem Fleisch, das von Fleisch berührt wird; er kann sich vorstellen, eine Zunge zu sein, kein Mensch mehr, sondern eine Zunge.
    Noch etwas erregt ihn (oder vielleicht erregt ihn eben nur das): die Frau auf der Bühne schaut ihn an, genau ihn auf seinem zufälligen Sitzplatz im dunklen Zuschauerraum, so meint er zu spüren. Er kann dem Blick nicht ausweichen und kann ihn nicht erwidern.
    Für längere Zeit scheint ihr, was in ihrem Leben vorgeht und was draußen in der sogenannten Wirklichkeit vorgeht, ist trotz allem miteinander verbunden, sie spürt es, in ihrer Machtlosigkeit, kann den unwahrscheinlichen, verheerenden Zusammenhang beinah greifen. Auch wenn sie kaum aus dem Haus geht, diese Stadt bleibt der Schauplatz ihrer Geschichte, manchmal kommt sie an dem Ort vorbei, wo ihre Schwester

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