Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
auch die Menschen von einer solchen Schicht bedeckt, und sie wartet nur, bis sie einen beim knirschenden Auseinanderfallen erwischt. Der Hunger ist wie eine Droge, in den letzten Tagen lacht sie vor Glück und sieht die Dinge deutlicher, sieht sie, als existierten sie noch wirklich, mit einem ihr unbekannten Hintergrund, wenn nicht Innenleben. Einmal geht sie ins Flex tanzen, was sie so gut wie nie getan hat, sie weiß genau, dass sie ständig am Rand des Umfallens ist, hat den Eindruck, die Männer wichen ihr aus (und es ist ihr egal); das Licht und die Musik peitschen sie in eine andere Welt. Einer, den sie kennt, erkennt sie nicht wieder und sie lacht ihm so lang ins Gesicht, bis er zurückweicht. Um fünf Uhr früh geht sie zu Fuß nach Hause und kann sich kaum vorstellen, den nächsten Tag zu erleben (das ist, wie sie nachher weiß, ein Zustand von Glück). Trotzdem beginnt sie nach einer Woche wieder zu essen. Jeden Monat wird die Miete vom Konto ihrer Mutter, das von der Pension ihres toten Vaters gespeist wird, abgebucht, eine Zeit lang kann das weiterlaufen, vielleicht Jahre, dann wird ihr das Geld ausgehen. Sie liest in einem von Monas wenigen Büchern ein paar Sätze: Selbst deine eigenen Arme fühlen sich deinem Körper in der Tiefe fremd. Sie spüren, dass sie nicht zu dir gehören. Das ist ein wichtiges Geheimnis. Die radikale Essenz des Butoh. Das ist einer dieser nervtötenden exotistischen Orakelsprüche, denkt sie spontan, ein Spruch, der sich nicht schämt, sich selbst Weisheit zu nennen, dann denkt sie an die Leere; sie denkt an Monas ungelenkes Laufen als Kind (ein Kind, das fliegen konnte, sie glaubt es beinah), an Monas traumwandlerisch elegante Bewegungen als Frau: diese unbegreifliche Selbstverständlichkeit und Grazie, hinter der das Ungelenke zu ahnen ist, dich treibt es, noch einmal an den Stadtrand zu fahren, das Zimmer zu sehen.
Man kann tanzen lernen, vielleicht kann man also auch lernen, seinen Körper auszutauschen, die Vergangenheit zu löschen. Sie hört auf, Semester für Semester zu inskribieren, was wenig bedeutet, sie beginnt zugleich wieder, die Bücher zu lesen, die sie immer gelesen hat. Monas Studentinnenausweis liegt neben ihrem Studentinnenausweis in einer Schublade, sie hat vier Semester vor ihrer Schwester zu studieren begonnen und ein Semester nach ihrer Schwester zu studieren aufgehört. Manchmal schämt sie sich, dass sie sich die Verzweiflung leisten kann, aber vor wem soll sie sich schämen, vor den Betrügern, den selbstgerechten Idioten, den Siegern, sollen die Betrüger und Idioten, die Sieger denken, was sie wollen, soll doch, sollen die anderen, sollen sie tun, was sie für richtiges Leben halten, und ihre Toten begraben. Die Toten sind nicht begraben.
Noch kann sie sich die Verzweiflung leisten, sie kann (bevor sie an den Stadtrand fährt, mit dem Mann aus dem Haus am Stadtrand redet, wieder unter Leute geht und zu der wird, die sie sein wird) versuchen, Schritt für Schritt Monas Weg zu rekonstruieren, gleich wird sie merken, dass das der falsche Weg ist, sobald sie aus dem Haus geht, geht sie falsch. Sie trägt nicht das Hemd, sie trägt nicht Monas Kleider, das schiene ihr lächerlich. Trotzdem ist ihr etwas im Weg, ein Zuviel an eigenem Bewusstsein vielleicht, ein Bewusstsein der Verdopplung (oder ist gerade darin zu finden, was zu finden ist?)
Er stellt sich die Blicke auf der nackten Haut vor, im Garten, er schläft, auf einer Liege an einem Swimmingpool (der auf keinem der Fotos zu sehen ist, den er aber nun ganz deutlich sieht, dieser Pool scheint das Licht rundum, das Licht auf der Haut und auf den Pflanzen zu bestimmen, sie in eine Art von flüssigem Licht zu tauchen), dann Schritte auf bloßen Füßen, das Sirren von Zikaden. Der Mann, der da schläft, sieht jung aus, sie bleibt bei ihm stehen, setzt sich auf einen Liegestuhl, das Wasser im Schwimmbecken leuchtet grünlich und schickt seinen Widerschein über ihre Körper, über das lang nicht geschnittene Gras im Garten, die grünen, roten, violetten Körper der Pflanzen. Er stellt sich vor, im Schlaf die Blicke zu spüren, sie nicht erwidern zu müssen, sich nicht bewegen zu müssen, nur Blicke zu spüren. Er sieht jünger aus, als er ist, dieser Mann, der zu ihrer Schwester gehört, dieser nackte Körper mit glatter Haut, der auf einem Handtuch ausgestreckt liegt, den Kopf mit geschlossenen Augen zu ihr hingewendet. Natürlich hätte er nicht erwartet, dass sie auftaucht, aber er wird wissen,
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