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Regulator: Roman

Regulator: Roman

Titel: Regulator: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auf die Wange. Und was für einen reizenden Kuß!
    Wir »verabschiedeten« uns freundschaftlich von der China-Grube, dann fuhr ich sie zum Bürowohnwagen zurück, wo ihr Auto parkte. Soweit ich sehen konnte, hat niemand von uns Notiz genommen, obwohl ich einfach die Main Street entlanggefahren bin. Bei dem heißen Wetter ist Desperation am Sonntagnachmittag wie eine Geisterstadt. Als wir bei ihrem Auto ankamen, schüttelten wir einander reihum die Hände. Ich gab dem kleinen Burschen sein Spielzeug und bekam meinen Kuß. Mrs. Garin gab mir ebenfalls einen Kuß (und eine feste Umarmung dazu) und sagte, sie würden mich nie vergessen. Ich sagte, ich würde sie auch nie vergessen, was bis jetzt auch die reine Wahrheit gewesen ist. Ich erinnere mich am deutlichsten daran, wie Seth lächelte, als er sein Spielzeug nahm, und wie er mir mit seinen Lippen den Schmatz auf die Wange gab. Eines an dem Kuß freilich war nicht angenehm; ich schien einen Hauch des Geruchs aus der Mine auf seiner Haut zu riechen ... diesen Lagerfeuergeruch nach Asche und Fleisch und kaltem Kaffee. Ich stand vor der Treppe des Wohnwagens und winkte ihnen nach, wie sie dem schrecklichen Schicksal entgegenfuhren,
    das laut Garins Schwester am Ende ihrer Reise auf sie wartete - sie wurden sinnlos von einem vorbeifahrenden Wagen aus erschossen. Alle winkten zurück - das heißt, außer Seth. Was auch immer in der Mine gewesen sein mag, ich glaube, wir hatten Glück, daß wir rausgekommen sind . . . und daß er danach der einzige Überlebende einer Schießerei in San Jose sein sollte! Man könnte fast sagen, daß er einen Schutzengel hatte, richtig? Und in einer Hinsicht hatte Garin recht. Ich konnte kaum glauben, daß sich alles wirklich abgespielt hatte, als der Staub, den ihr Auto aufwirbelte, noch nicht wieder zu Boden gesunken war. Vielleicht ist es immer so, wenn man gerade noch mal davongekommen ist. Wie ich schon sagte, ich träumte in Peru davon - hauptsächlich den Traum von den Schädeln und davon, wie ich mit der Taschenlampe in diesen Riß hineingeleuchtet hatte - aber tagsüber dachte ich kaum daran, bis ich Audrey Wylers Brief las, der am Schwarzen Brett hing, als ich aus Peru zurückkam. Sally hatte den Umschlag weggeworfen, sagte aber, er wäre einfach an »Die Bergbaugesellschaft von Desperation« adressiert gewesen. Als ich ihn las, bestärkte es mich in meiner Überzeugung, daß etwas geschehen sein mußte, als Seth unter Tage war (wie wir in meiner Branche sagen), und es möglicherweise falsch wäre, zu lügen, aber ich log trotzdem. Wie hätte ich anders handeln können, wo ich nicht einmal wußte, was dieses »Etwas« gewesen sein könnte? Aber dieses Grinsen. Dieses Grinsen.
    Er war ein netter kleiner Junge, und ich bin froh, daß er nicht im Rattlesnake getötet wurde (was ihm hätte zustoßen können, wie uns allen), oder zusammen mit den anderen in San Jose, aber ...
    Das Grinsen schien überhaupt nicht zu dem Jungen zu gehören. Ich wünschte, ich könnte es besser ausdrücken, aber besser kann ich es nicht. Es war, als hätte ich nicht Seth Garin gesehen, sondern etwas in Seth Garin, das sich in Seth Garin versteckte. Kann so etwas möglich sein? Ich weiß es nicht. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, und ich weiß es einfach nicht.
    Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch eines sagen. Sie erinnern sich vielleicht, wie ich erwähnte, daß Seth von der »alten Mine« sprach, ich aber den Zusammenhang zum Rattlesnake-Schacht nicht herstellte, weil kaum jemand in der Stadt davon wußte, geschweige denn Durchreisende aus Ohio? Nun, während ich dastand und zusah, wie sich der Staub ihres Autos senkte, dachte ich wieder darüber nach, was er gesagt hatte. Und darüber, wie er einfach durch das Büro zu den Fotos der China-Grube am Schwarzen Brett gelaufen war, als wäre er schon tausendmal dort gewesen. Als hätte er sich ausgekannt. Da hatte ich einen Einfall, und mit ihm kam das Frösteln. Ich ging hinein und sah mir die Bilder an, weil ich wußte, daß ich das Gefühl anders nicht würde abschütteln können.
    Alles in allem waren es sechs Fotos, Luftbildaufnahmen, die die Firma im Frühjahr hatte machen lassen. Ich nahm die kleine Lupe vom Schlüsselbund und betrachtete mir eines nach dem anderen genauer. Tief in meinem Innersten wußte ich, . was ich entdecken würde, noch bevor ich es sah. Die Luftaufnahmen waren lange vor der Sprengung gemacht worden, die den Rattlesnake-Schacht freilegte, daher war keine Spur

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