Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reich der Schatten

Reich der Schatten

Titel: Reich der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon Drake
Vom Netzwerk:
einmal war. Wir alle schweben in Gefahr, egal, wie gut wir bewacht werden. Freilich bin ich schuld, weil ich bin, was ich bin. Früher hat mich das sehr stolz gemacht, heute macht es mir Angst.«
    »Jacques, ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
    »Du musst endlich deinen Sinnen und deinem Instinkt vertrauen.«
    Sie nickte und strich ihm zärtlich das graue Haar aus der Stirn. »Großpapa, bitte!«, sagte sie mit wachsender Besorgnis. »Wenn ich es doch nur ein wenig besser verstehen könnte! Wann – wann hast du Brent Malone kennengelernt?«
    Jacques schloss die Augen. »Vor langer Zeit«, erwiderte er.
    »Großpapa! Wann genau?«
    Doch seine Lider flatterten nicht. Entweder war er wieder eingeschlafen, oder er war entschlossen, wenigstens so zu tun.
    Tara stand auf und ging. Brent war bestimmt noch im Haus, vielleicht würde er ihr mehr sagen.
    Er war tatsächlich noch da, er stand an der offenen Haustür. Draußen graute ein neuer Tag, und soeben war die Zeitung geliefert worden. Brent hielt sie in der Hand und starrte auf die Schlagzeilen.
    »Wieder eine Tote!«, sagte er.
    Zornig schleuderte er die Zeitung weg, ging hinaus und schmetterte die Tür hinter sich zu.
    Paul stand neben dem wütenden Monsieur François und starrte auf den Bildschirm.
    Man hatte ihnen erklärt, dass sie die Leiche nicht zu sehen bekommen würden, sondern nur die Kleidung und den Schmuck der Frau.
    Paul wartete angespannt. Irgendwo dort drinnen wurde eine Bahre vor eine Kamera geschoben.
    Er starrte auf den Bildschirm, blinzelte, starrte wieder.
    Seine Knie gaben nach, ihm wurde schwindelig.
    Schließlich konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten und brach schluchzend zusammen.
    Er hörte Monsieur François heftig fluchen.
    In den Tiefen zwischen Schlafen und Wachen tauchten Bilder aus der Vergangenheit auf, wirbelten wie in einem Nebel durcheinander.
    Jener Tag … so lange her …
    Er war schwach, unglaublich schwach. Lange Zeit hatte er viel zu wenig Nahrung bekommen und dennoch hart arbeiten müssen.
    Nun waren sie alle in ein Lager gepfercht worden: Gefangene, die wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft hier gelandet waren, Dissidenten und politische Gefangene, alle anderen, die dem Regime, aus welchem Grund auch immer, ein Dorn im Auge gewesen waren. Doch anfangs war es nicht so schlimm gewesen.
    Bis er Andreson sah.
    Und Andreson ihn sah.
    Es war, als hätten sie beide von Anfang an gewusst, dass sie einander erkannten.
    Aber Andreson hatte von Anfang an die Macht besessen.
    Er war überzeugt, dass ihn Andreson sofort hinrichten lassen würde, doch seltsamerweise tat er es nicht. Stattdessen war er offenbar wild entschlossen, den Willen seines Gegners zu brechen.
    Am Ende würde er ihn selbstverständlich umbringen lassen. Eines Nachts würde er einfach verschwinden, wie so viele vor ihm.
    Andreson war ein Fachmann für subtile Folter. Er sonnte sich in dem Wissen, dass der Mann, den er abgrundtief hasste, jeden Abend mit der Angst zu Bett ging, was die Nacht ihm wohl bringen würde. Anfangs hatte der Gefangene noch eine gewisse Stärke in sich gespürt; er hatte versucht, den anderen zu erklären, dass sich ein Ungeheuer in dem Lager aufhielt, böser als alles, was sie sich vorstellen konnten. Seine Worte waren auf taube Ohren gestoßen, doch sie waren sicher bis zu Andreson durchgedrungen. Der aber war sich seiner Macht so sicher, dass sie ihn bestimmt nur erheitert hatten.
    Eines Morgens war er auf dem Weg zur Arbeit geflohen. Beinahe hätte er sich auf Andreson stürzen und das Nötige tun können.
    Aber Andreson war umringt von treuen Gehilfen, die er aufgrund ihrer Unmenschlichkeit ausgewählt hatte. Man hatte ihn wieder eingefangen.
    Und dann waren die Tage der Einzelhaft gekommen.
    Die Nächte, die er wach verbrachte und wartete.
    Aber gegen Ende hatte Andreson vielleicht begonnen, sich um seine Zukunft zu sorgen. Den Tod fürchtete er nicht, aber er war kurz davor, das zu verlieren, was er sich aufgebaut hatte: seine absolute Macht.
    Er spürte es, als es so weit war, dass Andreson die Lust an seiner subtilen Folter verlor. Und natürlich wusste er, dass das Ende bevorstand. Die Frage war nur, wer zuerst kommen würde – die Amerikaner oder die Russen.
    Andernorts hatte der drohende Untergang manche schwach werden lassen, sie dazu gebracht, ihre Posten aufzugeben, zu fliehen und die Gefangenen zurückzulassen.
    Nicht hier.
    Nicht an diesem Ort.
    Die Gefangenen wurden zusammengetrieben und gnadenlos

Weitere Kostenlose Bücher