Reich der Schatten
die Medikamente nicht beeinträchtigt.
Seine Sprachkenntnisse hatten sich zunehmend verbessert. Er schnappte immer wieder Gesprächsfetzen auf und erfuhr so, was los war.
Lange genug hatte der Tyrann die Oberhand gehabt, doch nun wendete sich das Blatt. Das war immerhin ein Trost inmitten all seiner Qualen.
Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort war er oft mit seinem Vater am Fluss gesessen – einem Mann, der in einem anderen Krieg gekämpft und gelernt hatte, wie wertvoll Frieden und Freiheit waren. Er hatte seinem Sohn erklärt, dass es Schlimmeres gab als den Tod. Dieser gütige, weise Mann hatte ihm die Kraft gegeben, dass er sich jetzt nicht vor dem Tod fürchtete; nein, oft hätte er sich sogar über ihn gefreut.
Weiss verdankte er den Willen zu überleben. Weiss erzählte ihm Geschichten von seinen Leuten – von Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um andere zu retten; von anderen, die Pech gehabt hatten und ertappt worden waren – sie mussten mit ihrem Leben bezahlen. Er lernte die Menschen besser kennen, die eigentlich seine Feinde hätten sein sollen: Manche Wärter sahen weg, wenn Weiss ihm half, und eine Frau, die Geliebte eines der schlimmsten Offiziere, lächelte dem Mann zwar ins Gesicht, tat jedoch alles, um den Gefangenen bei der Flucht zu helfen. Oft setzte sich Weiss mitten in der Nacht an sein Bett und berichtete ihm flüsternd, was im Krieg und der Welt so vorging. Und er sprach auch über die Menschen – Menschen, die man wahrscheinlich alle über einen Kamm scherte.
Doch manche stemmten sich mit all ihrer Kraft gegen das Regime, auch wenn sie Angst hatten – weniger um sich als um ihre Frauen, ihre Kinder und andere, die ihnen nahestanden. Aber eines Tages würde die Welt erfahren, dass es auch unter den Feinden Helden gab, die sich gegen den Wahnsinn aufgelehnt hatten.
Dem Lieutenant fiel es nicht schwer, Weiss Glauben zu schenken, denn er kannte den Mann.
Die laufenden Berichte und die Gesprächsfetzen, die er von anderen aufschnappte, stärkten seinen Lebenswillen. Das Blatt wendete sich definitiv jeden Tag ein bisschen mehr. Der Kampf in Russland war festgefahren, denn auch diese Angreifer hatten qualvoll lernen müssen, was vor ihnen schon viele andere gelernt hatten: Landschaft und Klima waren selbst für ein starkes Heer oft unerträglich. Eisige Temperaturen, Berge von Schnee – die Erde schützte ihre Kinder, ein Volk, das brutalen Prüfungen ausgesetzt war. Doch auch an anderen Orten gerieten die Kämpfe ins Stocken, an Orten, wo Völker in höchster Gefahr beherzt Widerstand leisteten.
In jener Zeit lernte er, einen Menschen nie allein aufgrund seiner Volkszugehörigkeit, seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Geschlechts zu beurteilen. Güte kam in vielerlei Gestalten, auch in der seines Freundes Weiss und der anderen, deren Menschlichkeit stärker war als ihre Angst.
Er wusste nicht, wie lange er dort war. Ihm kam es wie viele Jahre vor. Schmerzen konnten aus einem Moment eine Ewigkeit machen.
Aber dann änderte sich die Lage. Eines Nachts, als die anderen schon schliefen, setzte sich Weiss zu ihm und sprach über den bevorstehenden Zusammenbruch des Reichs. Er berichtete ihm, dass die Kommandanten es allmählich selbst mit der Angst zu tun bekamen und vorhatten, das Lager aufzulösen.
Die Gaskammer und das Krematorium sollten rund um die Uhr in Betrieb bleiben. Es war befohlen worden, alle Gefangenen zu töten. Nach Möglichkeit sollte keiner von ihnen bestätigen können, was die Welt bereits vermutete.
»Ich muss Sie von hier fortschaffen. Sie müssen unbedingt weg. Aber Sie wissen noch nichts – nichts darüber, was Sie sind, was Sie geworden sind, was Sie tun müssen, wie Sie damit umgehen müssen.« Der Doktor wirkte verwirrt. Der Lieutenant dachte, dass der Druck ihn wohl allmählich um den Verstand brachte.
»Sie werden Sie holen. Sie wollen, dass Sie verschwinden, dass nur Asche übrig bleibt und nichts, worüber man mutmaßen könnte.«
»Sehen Sie zu, dass Sie selbst heil aus diesem Schlamassel herauskommen, mein Freund«, riet der Lieutenant leise. »Ihr Volk braucht Männer wie Sie.«
»Niemand wird mir glauben, dass ich getan habe, was ich konnte.«
»Wenn es stimmt, was Sie sagen, und der Krieg verloren ist, wird es Prozesse geben. Sie werden vor Gericht kommen, und die Überlebenden werden für Sie aussagen.«
Dem Doktor rollten Tränen über die Wangen. »Ich habe nicht genug getan. Wie viele andere hatte ich viel zu
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