Reich der Schatten
Sie, kommen Sie!«, drängte Weiss.
Er warf einen Blick zurück. Gefangene, zu Skeletten abgemagert, kaum in der Lage zu stehen, starrten sie an.
»Wir können sie doch nicht allein lassen«, murrte der Lieutenant. Aber was konnten sie schon tun – ein gebrechlicher alter Arzt und er, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte?
»Wir kommen zurück«, beruhigte ihn Weiss. »In ein paar Stunden kommen wir zurück, bei Vollmond.«
Der Lieutenant hätte gelächelt, wenn er gekonnt hätte. In ein paar Stunden! Er starrte auf die Blutspur, die er hinterließ.
In ein paar Stunden würde er tot sein.
Kurz darauf kamen sie an einen kleinen Bach – und darin sah er sein Spiegelbild.
Sie war erschöpft und erzürnt.
Es hätte eine kurzweilige und unproblematische Nacht werden sollen, aber so war es nicht gekommen. Sie war nur mit knapper Mühe entwischt. Das ärgerte sie: Sie, Louisa, hatte verängstigt fliehen müssen.
Aber schließlich tröstete sie sich damit, dass sie sich rächen würde. Sie würde sich viel Zeit nehmen für die Rache und sie voll auskosten. Sie musste sich nur Verstärkung holen, wenn sie es mit einer Macht zu tun hatte, die der ihren ebenbürtig war.
Mit einer solchen Gefahr hatte sie wahrhaftig nicht gerechnet.
Doch bald würde sie sich dieser Gefahr stellen.
Und sie vernichten.
Was die Bewohner des Château DeVant anging … diese Frauen …
Ja, auch die würden für ihre Frechheit büßen.
Wo steckte Claremont? Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch sie spürte nur, dass Gefahr in der Luft lag. Sie musste ihren Geist abschotten.
In dem Bewusstsein, dass es bald, viel zu bald, wieder hell werden würde, streifte sie durch die Straßen.
Zorn nagte an ihr, und mit dem Zorn kam der Hunger, verzweifelter Hunger.
Mit geschärften Sinnen bewegte sie sich weiter. Sie spürte, dass etwas in der Nähe war. Nun änderte sie ihre Gestalt und bewegte sich wie ein Schatten.
Sie fand die Beute, die sie gespürt hatte.
Bärtig …
Verdreckt, an einer Mauer in einer kleinen Gasse lehnend, eine Papiertüte mit einer Schnapsflasche neben sich. Er dämmerte im Halbschlaf vor sich hin und sang leise.
Sie schlich sich näher.
Er blinzelte.
Und hörte auf zu singen.
Sie beugte sich über ihn.
Der Mann stank unbeschreiblich, er hatte offenbar seit Jahren nicht mehr gebadet. Seine Kleider starrten vor Schmutz, die Jeans voller Flecken, fadenscheinig vom täglichen Tragen. In den verfilzten Haaren und im Bart befanden sich Laubreste und anderer Abfall. Egal, mahnte sie sich. Sie würde der Menschheit unfreiwillig sogar einen Gefallen tun, wenn sie die Straßen von diesem Abschaum säuberte.
Doch als sie näher rückte …
Nein.
Nein, er war wirklich zu dreckig, er stank unerträglich, er war einfach nur ekelerregend.
Trotz ihres Hungers zog sie weiter.
Gleich darauf sang der Mann wieder, unterbrochen von leisen Selbstgesprächen, in denen er sich über seine idiotische Angst vor der Dunkelheit lustig machte.
Louisa konzentrierte sich erneut. Die Schatten umhüllten sie noch immer, sie wurde eins mit ihnen. Dann … vor ihr: ein Trio, zwei Männer, eine Frau, die lachend, plaudernd und eine Weinflasche hin und her reichend durch die Straßen zogen.
Die Wut, die noch immer in ihr loderte, verstärkte ihren Hunger.
Allerdings wusste sie nur allzu gut, dass ihr diese Wut schlechte Dienste erweisen konnte. Bei einem Betrunkenen in einer Gasse war das egal, aber man hatte einfach mehr Spaß, wenn man etwas raffinierter vorging.
Sie lief hinter der Gruppe her, dann wurde sie etwas schneller, überholte sie, wurde wieder langsamer, tat jedoch so, als ob sie ein Ziel im Sinn hätte.
»Ah, Mademoiselle! Bonsoir! «, rief einer der Männer.
»Pieter!«, schimpfte die Frau. »Lass sie in Ruhe!«
Louisa warf einen raschen Blick zurück, um die Gruppe genauer zu betrachten. Na ja, die Crème de la Crème waren diese Leute auch nicht gerade. Der Rock der Frau war zu kurz, und der tiefe Ausschnitt ihrer Bluse gewährte großzügig Einblick. Und wie sie sich bewegte …
Na gut – eine Gunstgewerblerin. Louisa verurteilte sie nicht. Jede Frau musste zusehen, wo sie blieb. Aber die hier war ziemlich gewöhnlich – der üppige Busen, die breiten Hüften … Bald würde sie richtig fett werden. Als Kurtisane für die Reichen und die Mächtigen kam sie nicht infrage. Auch war sie nicht klug genug, sie wirkte völlig ungebildet. Bestimmt war ihr noch nie der Gedanke gekommen,
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