Reich der Schatten
manchen Wochen schuftete sie achtzig Stunden.
»Vielleicht haben Sie recht.«
Sie holte ihre Handtasche. Es war ein wunderschöner Tag, ein bisschen frisch, aber sonnig. Sie brauchte keine Jacke. Als sie neben ihn trat, nahm er sie am Arm und lächelte. Ein herzliches, wundervolles Lächeln.
»Wohin möchten Sie denn gehen?«, fragte sie.
»Wo immer Sie hin wollen.«
Ein diskretes Hotelzimmer, dachte sie, sagte es aber natürlich nicht laut. Doch sein Lächeln wurde breiter, als hätte er sie verstanden.
Hochgestimmt verließ sie ihr Büro an seiner Seite und schritt an den anderen Räumen des modernen Pariser Hochhauses vorbei. Die Empfangssekretärin und ein paar andere Mitarbeiter musterten sie neidisch.
Am Schreibtisch ihrer Sekretärin blieb sie stehen. Henriette, jung und hübsch, machte große Augen und entschuldigte sich hastig: »Ann, der Herr meinte, er sei ein alter Freund und wolle Sie überraschen. Ich hätte natürlich anrufen sollen …« Sie stockte und wirkte etwas perplex. »Ja, tut mir leid, dass ich das nicht getan habe. Ich hoffe, das war nicht so schlimm.«
»Schon gut, Henriette, kein Problem.« Sie warf einen Blick auf Rick. »Mein alter Freund und ich gehen kurz zum Mittagessen. Vielleicht wird es auch ein bisschen später, aber zum Meeting heute Nachmittag bin ich bestimmt wieder zurück.«
»Ja, natürlich.«
»Vielen Dank, Henriette«, meinte Rick und lächelte die Empfangssekretärin breit an. Man konnte fast sehen, wie Henriettes Herz hüpfte.
Beaudreaux nahm Anns Arm, der sich sofort wie elektrisiert anfühlte.
Sie gingen zum Aufzug. Auch andere Angestellte waren auf dem Weg zum Mittagessen. Ann konnte ihren Blicken entnehmen, dass sie und der Amerikaner ein attraktives Paar waren.
Sie traten ins Freie.
Rick betrachtete sie. Mein Gott, was hatte dieser Mann für wundervolle, kraftvolle blaue Augen! Sie hätte den Blick nicht abwenden können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Er fragte sie leise: »Also, wohin würden Sie gerne gehen?«
»Irgendwohin, wo es …« Ihre Stimme versagte.
»Wo es was?«, fragte er.
Eigentlich wollte sie sagen: wo es frischen Salat und appetitlich warmes Brot gibt.
Doch sie brachte die Worte nicht heraus.
»Irgendwohin, wo es …«, gab er ihr noch einmal das Stichwort.
Sie atmete tief durch. Ihre Blicke waren noch immer verschränkt.
»… wo es ein Bett gibt«, sagte sie.
Die Tür zur Bibliothek war geschlossen, als Tara zurückkam. Sie ging hinein, ohne anzuklopfen.
Ihr Großvater saß hinter dem Schreibtisch.
Und auch Brent Malone war noch bei ihm; aber das hatte sie schon dem zerbeulten alten BMW an der Zufahrt entnommen. Er beugte sich über Jacques’ Schultern, während dieser Punkte auf einer Karte markierte.
»Was macht ihr denn da?«, wollte sie wissen.
»Wir studieren eine Karte von Paris und der Umgebung«, erklärte Brent.
Ihr Großvater hob den Blick. Er wirkte nicht besonders gebrechlich, im Gegenteil, seine Wangen waren gerötet und zeigten, wie sehr ihn seine Arbeit erregte.
»Brent, Sie sollten jetzt lieber gehen«, meinte sie.
»Tara!«, sagte Jacques vorwurfsvoll.
»Mein Großvater war in letzter Zeit ziemlich krank. Wenn er ermüdet, bekommt er vielleicht wieder eine Lungenentzündung.«
»Tara!«, wiederholte Jacques.
»Vielleicht ist es doch an der Zeit, dass ich gehe«, meinte Brent.
»Ich habe ihr genau erklärt, was hier vorgeht«, widersprach Jacques.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich zu den beiden. »Wenn Sie hier sind, um meinen Großvater in seinem Glauben an Vampire zu bestärken, dann sind Sie hier nicht erwünscht.«
»Sie glaubt es nicht«, sagte Brent leise.
»Ob sie es glaubt oder nicht – es gibt sie«, erwiderte Jacques. »Und wir sollten uns nicht von ihr bei der Arbeit stören lassen.«
Malone zuckte mit den Schultern. »Na ja, in dem Fall sind Sie diejenige, die gehen oder nachgeben und uns helfen sollte«, meinte er zu Tara.
»Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie tatsächlich an Vampire glauben? An Ungeheuer, die von den Toten auferstehen?«
»Manche sind Ungeheuer, manche nicht«, meinte Jacques.
»Aber Louisa de Montcrasset muss man zweifellos zu den Ungeheuern rechnen«, stellte Brent fest, wobei sein Blick völlig gleichmütig wirkte. Er hätte ihr genauso gut erklären können, dass es in ein, zwei Tagen höchstwahrscheinlich regnen würde oder nach dem Herbst immer der Winter kommt.
Wütend und einigermaßen empört machte Tara kehrt und
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