Reich durch Hartz IV
warum. Etwa 4500 Tafel-Fahrzeuge sind bundesweit unterwegs, um Lebensmittel abzuholen, deren Verfallsdatum zwar abgelaufen ist, die also nicht mehr verkäuflich, aber durchaus noch essbar sind. Doch das, was ich hier sehe, ist definitiv ungenießbar: schimmlig, zerdrückt, zermatscht. »Das ist ja kostenlose Entsorgung für Penny«, schimpft Janine, während sie die Kisten ins Auto wuchtet. »Wenn wir sagen, das nehmen wir nicht mit, dann sagen die: ›Na gut, dann brauchen Sie ja offenbar unsere Waren nicht‹.«
Wütend klemmt sie sich hinters Steuer und fährt weiter Richtung Kurfürstendamm. Die Krönung an diesem Morgen: ein schickes italienisches Yuppie-Restaurant. Die Mitarbeiterin kramt eine dünne Plastiktüte hervor. Darin befinden sich vermatschte Pizzen, die offenbar am Abend vorher übrig geblieben sind. »Würden Sie das noch essen?«, frage ich Janine. »Bestimmt nicht«, sagt sie energisch und lädt das Ganze mit Schwung in den Wagen. Die Runde ist zu Ende. Wir fahren zurück auf den Hof des gemeinnützigen Vereins Berliner Tafel.
Inzwischen ist es Mittag, und ein Fahrzeug nach dem anderen trudelt ein. Für viele, die hier Kisten wuchten, ist das ein Ein-Euro-Job. Das heißt, sie bekommen vom Jobcenter neun Euro am Tag dazu und dürfen sich eine Tüte mit Lebensmitteln mitnehmen. Unter ihnen finden sich aber auch eine Menge Freiwillige, Rentner und Hausfrauen, die mithelfen wollen: Kiste um Kiste wird in einen großen Raum geschafft. Zehn Leute sind damit beschäftigt, deren Inhalt zu sortieren. Manchen steht der Ekel ins Gesicht geschrieben. Ein Teil der Lebensmittel wandert sofort in riesige Abfalltonnen. Einige stehen schon geöffnet am Ausgang, umkreist von dicken Brummern, Wespen und Fliegen. Auch die Pizza vom Nobelitaliener verschwindet in der Abfalltonne, so wie viele andere edle Spenden. Die Vorstellung, dass es hier nur um Mildtätigkeit geht, schminkt man sich schnell ab. Offenbar sparen Lebensmittelhändler bundesweit Abfallgebühren in Millionenhöhe, was Robert Hedram von der Berliner Tafel bestätigt: »Ungefähr 220 Tonnen Biomüll haben wir pro Monat. Wir verteilen 660 Tonnen. Ein Viertel der Lebensmittel, die wir bekommen, ist also Müll.«
»Und können Sie den Firmen nicht sagen: Wir sind keine Müllstation, sondern wollen armen Leuten helfen?«
»Wir haben schon mal versucht, den Läden und Firmen zu erklären, dass wir keine Entsorger sind. Aber viele machen das natürlich, um die Entsorgung ihres Biomülls einzusparen. Das ist nicht bei allen so. Viele geben auch super Sachen, aber die großen Ketten nutzen uns schon als Entsorger. Das heißt: Wir zahlen 40 000 Euro im Jahr an Entsorgungskosten, die wir aus unseren Spendengeldern aufbringen müssen.« Noch lukrativer wird das Ganze, wenn die Tafel eine Spendenquittung ausstellt.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr kommt wie jeden Tag die Berliner Müllabfuhr – und tatsächlich: Die Tafelmitarbeiter haben 20 Bio-Tonnen bis zum Rand gefüllt. 40 000 Euro allein in Berlin. Bundesweit lassen sich daraus einige Millionen Euro hochrechnen.
Das, was tatsächlich verzehrbar ist, wird von der Tafel an Kirchengemeinden und Wohlfahrtsorganisationen weitergegeben. An der Tür einer Kirchengemeinde hat sich eine lange Schlange aufgebaut. Am Eingang wird jeder registriert, der kommt. Wer hier eine Tüte mit Lebensmitteln für einen Euro mitnehmen will, muss vorweisen, dass er Hartz IV bezieht oder nur eine sehr kleine Rente hat. Der Mitarbeiter am Eingang fragt, wie viele Mitglieder einer Familie Hartz IV bekommen. Dann wird mit einer Wäscheklammer eine Karte am Pullover oder an der Jacke des Abholers befestigt. Darauf steht, wie viele Tüten er mitnehmen darf. Pro Person gibt es eine Tüte. Manche Hartz-IV-Großfamilien holen aber offenbar auch schon mal für Schwester, Schwager, Kinder, Bruder und Onkel gleich mit Nachschub. Am Eingang müssen sie dann nachweisen, dass auch die Hartz-IV-Empfänger sind und damit die Berechtigung haben, Lebensmittel in Empfang zu nehmen.
Einige Tafel-Besucher erweisen sich als Stammkunden. Auf Nachfragen erklärt beispielsweise eine Frau, sie habe es im Rücken, ihr Mann Sausen im Kopf. Ihre erwachsenen Kinder zwischen 20 und Mitte 30 seien »irgendwie arbeitsuchend«, erklärt die Mutter, die für die Großfamilie Lebensmittel abholt. Sie habe »Arbeitsverbot«, erklärt sie strahlend. Der Grund: ein Bandscheibenvorfall. Dass viele andere Menschen mit derselben Diagnose umschulen oder nach einer
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