Reid 2 Die ungehorsame Braut
vergönnt war, Alder’s Nest einen Besuch abzustatten, wäre es wunderbar, das endlich nachzuholen. Dein Großvater hat es nämlich vorgezogen, allein dort hinzufahren, wenn er seiner Rasselbande auf Norford Hall entfliehen wollte.« Esmeralda spielte darauf an, dass ihr Vater sich Alder’s Nest als Refugium erbaut hatte und regelmäßig dort hingefahren war, um sich zu erholen.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ausgerechnet du Großvater auf die Nerven gegangen bist.«
Das bin ich auch nicht, glaube ich«, antwortete die betagte Dame und wackelte dabei mit den Augenbrauen. »Julie und Corinthia waren viel schlimmer. Ständig haben sie sich gezankt. Am schlimmsten war jedoch dein Vater. Es verging kein Tag, an dem er uns nicht geärgert, im Haus umhergescheucht oder uns Streiche gespielt hat. Manchmal kann ich es gar nicht fassen, dass aus ihm ein halbwegs anständiges Mitglied unserer Gesellschaft geworden ist.«
Raphael schmunzelte innerlich, denn genau wie sein Vater liebte auch er es, seine jüngere Schwester zu necken.
»Wir werden morgen zeitig aufbrechen«, sagte er schließlich, rollte die Ärmel auf und wischte sich den Schweiß von den Augenbrauen. »Sei so lieb und erzähl Ophelia nicht, wohin wir fahren. Sie geht davon aus, dass wir uns auf dem Weg nach London befinden.« Und dann, als sein Blick zum prasselnden Feuer glitt, hielt er es nicht länger aus und fragte: »Frierst du eigentlich immer noch, Tante Esme?«
»Ach was, ich habe das Gefühl, vor lauter Hitze gleich dahinzuschmelzen. Aber ich möchte William das Gefühl geben, dass er hier gebraucht wird«, sagte sie im Flüsterton, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden. »In letzter Zeit spricht er immer häufiger davon, sich zur Ruhe zu setzen. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich ihn nicht mehr um mich hätte. Wir bekommen dieses Jahr leider nur noch so selten Besuch, dass er sich überflüssig fühlt. Deshalb lasse ich ihn jede Stunde Holz nachlegen.«
Raphael lachte lauthals los. »Dann hast du doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich kurz lüfte?«
Esmeralda grinste ihn an. »Im Gegenteil.«
Kapitel sechs
I m Laufe der Nacht schneite es, jedoch nicht annähernd genug, als dass die weiße Pracht lange liegen geblieben wäre. Dennoch bot die weiß gepuderte Landschaft einen traumhaften Anblick.
Genau wie zu Spiegeln hatte Ophelia ein gespaltenes Verhältnis zum Schnee. Sie liebte den Zauber des Schnees, konnte es aber auf den Tod nicht ausstehen, wenn er dreckig wurde, was in einer belebten Stadt wie London natürlich nicht lange auf sich warten ließ. Heute hingegen, dessen war sie sich sicher, würde ihre Freude länger währen als üblich, schließlich waren sie auf dem Land.
Ihr Kutscher - der Gedanke, dass ausgerechnet der Locke-Erbe auf dem Kutschbock saß, amüsierte sie noch immer ein wenig - wartete bereits in der Eingangshalle auf sie. Seinetwegen hatte sie ihr elegantestes Reisekostüm angelegt; jenes, das sie bereits für Duncan MacTavish getragen hatte, als sie versucht hatte, ihre Meinungsverschiedenheit in einem Gasthof in Oxbow beizulegen. Sie wusste nur allzu gut, wie verführerisch sie in dem bodenlangen puderblauen Mantel mit Pelzbesatz und der passenden Pelzmütze auf ihrem blonden Schopf aussah.
Sie hatte Duncan in diesem Aufzug bezirzt, wenngleich er sich nicht hatte weichkochen lassen. Die Narbe, die sie ihm zugefügt hatte, indem sie ihn einen Barbaren geschimpft hatte’ war doch zu tief gewesen. Es war eine kniffelige Situation und zumindest ihrer Meinung nach, einer ihrer besten Auftritte gewesen. Sie hatte gewollt, dass er ihr vergab, damit sie ihre Verlobung wieder aufnehmen und dem Gerede ein Ende berei-ten konnten, um die Verlobung anschließend in beiderlei Einvernehmen wieder zu lösen - genau wie sie es mit der ersten Verlobung hätten tun sollen. Zudem wollte sie sichergehen, dass er seine schlechte Meinung über sie nicht änderte und am Ende noch meinte, er wäre in sie verliebt, wie so viele andere Männer. Das galt es, unter allen Umständen zu unterbinden.
Sie hatte den Grad ihrer Reue der schlechten Meinung angepasst, die er von ihr hatte - mit dem Ergebnis, dass er ihr ihren Dünkel vorwarf. Seine letzte Bemerkung hatte gelautet: »Ich war nicht davon ausgegangen, mit meiner eigenen Ehefrau um ihre Aufmerksamkeit buhlen zu müssen.«
Seinerzeit hatte es sie maßlos aufgeregt, jetzt hingegen konnte sie dem Ganzen durchaus etwas Amüsantes abgewinnen.
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