Reif für die Insel
ihrer Flasche Regina zum Strand zurückzuschicken. Obwohl … auch dann wäre wahrscheinlich nichts mehr zu retten gewesen. Paul hatte sich mir geöffnet, mir ganz allein! Weit offen, ganz schutzlos war sein Herz. Gleichgültigkeit, Leichtfertigkeit, Häme und Gedankenlosigkeit konnten hineinfahren, es war nicht zu verhindern. Nein, was so anfing, konnte nicht gut werden.
Später nahm Uschi ihm das Gedicht aus der Hand, las es mit ernster Miene, sah Paul an, als verstünde sie jedes Wort und als bewunderte sie ihn dafür. Uschi tat alles, was ich hätte tun sollen. Sie reagierte angemessen, als wäre das Gedicht für sie geschrieben worden. Und am Ende schob sie es in ihre Hosentasche. Noch heute spüre ich den Schmerz, den mir diese Geste zufügte. Ihre dünnen Finger, die das Papier zusammenfalteten, so klein, dass es in ihre Hosentasche passte, ihre Fingerspitzen, die nachschoben, so lange, bis es fest in der Tasche saß. Es kam mir vor, als wäre mein Gedicht damit Teil ihres Körpers geworden. Ob Paul damals ahnte, dass ich genauso litt wie er? Nein, sicherlich nicht. Aber ich durfte mich nicht beklagen. Ich hatte Paul verletzt, so geschah es mir ganz recht, wenn ich nun ebenfalls litt.
Was mag aus ihm geworden sein? Nach der Syltreise war er plötzlich mit Uschi zusammen. Ein paar Monate später machten wir die Mittlere Reife, gingen von der Schule ab und verloren uns aus den Augen. Keine Ahnung, welchen Beruf Paul ergreifen wollte. Ich weiß nicht einmal, in |52| welche Stadt er gegangen ist. Und was aus Uschi geworden ist, weiß ich auch nicht. Elena erzählte Jahre später, sie habe Uschi in Berlin gesehen. Sehr schön, sehr elegant und teuer gekleidet. Elena hat beobachtet, wie sie in ein Taxi stieg, Uschi schien es eilig zu haben. Von Paul jedoch hat nie wieder jemand etwas gehört.
Es war ein klarer Himmel gewesen, daran erinnert er sich genau, von einem hellen, metallischen Blau. Die wenigen Wolkentupfer hatten scharfe Umrisse, nirgendwo gab es Wolkenschlieren, -fetzen oder -schleier. Der Himmel sah aus wie von kindlicher Hand bemalt. Im Tal zwischen den Dünen stand die Hitze, aber am Strand empfing sie ein kräftiger Wind. Ein ganz anderer Tag als dieser! Heute flimmert der Strand unter der Sonne, damals war er klar und durchscheinend.
Gemächlich geht Paul bis zur Wasserkante, streckt den linken Fuß ins Wasser, dann den rechten, zweimal den linken, zweimal den rechten. Dann stellt er die Füße nebeneinander, exakt parallel, und lässt eine Welle darüber schwappen. Mit dieser Symmetrie ist sein Wohlgefühl hergestellt.
Er macht kehrt und wandert, mit dem Blick auf seine Fußspitzen, zu den Dünen zurück. Ein Plätzchen hinter dem Gras wird er sich aussuchen, wo seine Erinnerungen nicht im Wege sind.
Uschi war damals die Erste gewesen, die loslief. Elena zögerte keinen Moment und rannte ausgelassen hinter ihr her. Rolf und Werner stießen sich lachend an, drängten |53| sich gegenseitig aus ihren Hosen, dann liefen sie hinter den Mädchen her, als wären sie auf der Flucht. Paul hatte es nicht eilig, genauso wenig wie Bärbel und Sophia. Und er war froh, dass Bärbel sich neben ihn setzte und er Sophia nicht ansehen musste. Er hatte den ganzen Morgen darauf gewartet, dass sie ihn um das Gedicht bat und ihm etwas sagte, was aus der Niederlage ein Ergebnis unglücklicher Umstände machte. Aber sein Warten war vergeblich gewesen. Zwar hatte er oft ihren Blick gespürt, aber gesagt hatte sie nichts.
Als er sah, wie die anderen sich in das Abenteuer der Nacktheit stürzten, stieg Hoffnung ihn ihm auf. Vielleicht würde Sophia hier begreifen, wie nackt und schutzlos er sich am Abend zuvor gefühlt hatte. Und vielleicht konnte sie hier sein Geschenk würdigen. Dann würde er keinen Moment zögern und das Gedicht von Uschi zurückverlangen.
Später fragte er sich, woher er eigentlich seine Hoffnung genommen hatte. Aber da war die Antwort auf diese Frage bereits nicht mehr wichtig. Da war der Krankenwagen schon gekommen, da hatte sich längst diese Leere breit gemacht, die entsteht, wo kurz zuvor nichts als Angst gewesen ist. Und dann hatten ihn die ersten vorwurfsvollen Blicke getroffen, und Sophia hatte ihn gar nicht mehr angesehen. Danach war er für Uschi leichte Beute gewesen.
Wenn er daran zurückdenkt, beschleicht ihn die Scham erneut. Nicht das schlechte Gewissen, nein, tiefe Scham. Entstanden war sie bereits, als Uschi und Elena mit Rolf und Werner kreischend im Wasser herumsprangen
Weitere Kostenlose Bücher