Reigen des Todes
dem steilen Ufer des tief unter ihnen dahinrauschenden Sammelkanals endete. Gegenüber war eine Böschung, über der der Eingang zur Zwingburg lag. Die dort herumlungernden Griasler hatten, als sie hörten, dass sich mehrere Menschen näherten, das lange Brett, mit dem man den Hauptkanal überqueren konnte, eingezogen. Stur weigerten sie sich, das Brett auszufahren. Sie schauten allerdings blöde, als zwei Sicherheitswachebeamte mit einem anderen Brett aus der Röhre stiegen und es über den Hauptkanal legten. Die Griasler wollten das verhindern, doch Nechyba zog eine Pistole und gab einen Warnschuss ab.
Goldblatt schaute den Inspector verblüfft an. »Nechyba! Seit wann tragen Sie eine Schusswaffe?«
»Seitdem ich mit Ihnen unterwegs bin.« Schallendes Gelächter war die Folge. Und Nechyba fügte versöhnlich hinzu: »Sie haben schon recht. Ich mag keine Schusswaffen. Aber heut Abend hab ich mir gedacht, könnt ich’s vielleicht brauchen …«
Und damit ging er mit energischen Schritten über die Planke. Die anderen folgten ihm, und Goldblatt beobachtete mit Unbehagen das schwankende Stück Holz. Als Letzter überquerte er es schließlich selbst. Dabei nahm er sich vor, die nächste Einladung zu einer Razzia – ganz gleich, wo sie stattfinden würde – auszuschlagen.
Diese Meinung änderte er allerdings, als er schließlich in der Zwingburg drinnen war. In dem großen, gemauerten Raum, in dem sich circa zwanzig Obdachlose aufhielten, stank es gewaltig. Allerdings nicht nur nach menschlichen Ausdünstungen, sondern auch nach Rauch und verbrannten Kerzen. In der letzten Ecke des Raums lag auf einem mit Fetzen drapierten Steinhaufen ein halb verwester menschlicher Schädel. Im flackernden Kerzenlicht sah es aus, als ob sich dessen Gesichtszüge bewegten. Die Männer standen im Halbkreis um diese ›Reliquie‹ herum und betrachteten sie gebannt. Goldblatt, dem mystische Gefühle seit jeher fremd waren, trat vor und besah sich den Kopf aus der Nähe. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und zog eine Fotografie heraus, die er von der Regimentskanzlei der k.u.k. Hoch- und Deutschmeister zur Veröffentlichung bekommen hatte. Er hielt sie neben den Schädel, nahm die Brille ab, kniff die Augen zusammen, blinzelte, sah noch einmal genau hin und drehte sich anschließend zu den anderen um. »Meine Herren, ein Rätsel haben wir heute Nacht zumindest gelöst. Dieser Schädel hier trägt unverkennbar die feisten Züge des Oberstleutnant Vestenbrugg.«
April/Mai
»Dort, wo Franz Josef weise herrschet sechzig Jahr,
der Völker Vater, Friedensfürst, im Silberhaar,
Dort, wo viel Freud und Glück er fand in frohen Tag’n,
Doch auch manch Leid und Schmerz so standhaft hat ertrag’n.
Wo sich um Volk und Kaiser schlingt ein festes Band,
das is mei Oesterreich, das is mei Vaterland.«
Postkarte zum sechzigjährigen Regierungsjubiläum
von Kaiser Franz Josef I., Wien 1908.
I/2.
Satt und zufrieden schlenderte Leo Goldblatt nach dem Mittagessen in sein Stammcafé, das Landtmann. Er genoss die vereinzelten Sonnenstrahlen, die an diesem kühlen Frühlingstag doppelt wohltaten, und freute sich auf einen türkischen Kaffee mit einem Schuss Trebernen. Das würde Körper und Seele wärmen. Und falls der Kaffee ihn so aufmuntern sollte, dass ihn die Lust auf körperliche Ertüchtigung packte, könnte er im Landtmann ja auch eine Runde Billard spielen. Das war aber nicht sehr wahrscheinlich, denn meist hatte der nachmittägliche Kaffeegenuss andere Folgen: Verschanzt hinter einer Zeitung, machte er ein Nachmittagsnickerchen. Und so kam es auch heute. Er war in der Wiener Zeitung bei der ›Kleinen Chronik‹ angelangt, wo er Folgendes las:
Die Wiener Wärmestuben, die für den Tagesbesuch mit 15. März geschlossen wurden, hielten für Obdachlose des Nachts noch bis zum 1. April offen. In der Zeit vom 15. bis 31. März betrug die Anzahl der Besucher 6213 Männer, 470 Frauen und 35 Kinder, die sämtlich unentgeltlich mit Suppe und Brot beteilt wurden. Vom 15. November 1907 bis 15. März dieses Jahres betrug die Anzahl der Besucher bei Nacht 84.054, die Gesamtsumme bei Tag und Nacht 1,564.001 Personen.
Und dann schlief er ein. Er träumte, obdachlos zu sein, von einer verschlossenen Wärmestube zur nächsten zu laufen und nirgends Einlass zu finden.
»Goldblatt, aufwachen! Jetzt schlafen S’ schon untertags im Kaffeehaus … Das wär Ihnen vor ein paar Jahren noch net passiert. Früher sind Sie mit dem
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