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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Steinpilztausende, die Massen, die Zentner, all die kopflosen Rümpfe, buchstäblich etwas von Steinen, einem Haufen von Steinen, stumpfen, schweren und insbesondere wertlosen, zumindest minderwertigen. Und das sollte ein Schatz sein? Und erst seiner, das Dings, die dürftige Einzahl, sollte ein Schatz gewesen sein?
    Die Entzauberung war nicht von Dauer. Sie galt nur für den einen Abend. Schon am folgenden Morgen trat der Zauber neu in Kraft, und zwar gleich im Aufwachen, in den Übergangsmomenten des Halbschlafs. Er wirkte gerade durch die Abwesenheit des einen Zaubergegenstands. »Als Begierde?« fragte ich. »Nein«, hatte mein Freund geantwortet, »als Sehnsucht, oder, wenn Dir das eher entspricht, als Abenteuerlust.« Davon, anders als so oft am Morgen, auf der Stelle munter gemacht, drängte es ihn hinaus ins Freie, hin zu den Wäldern, und nicht bloß an deren Saum. Er hatte ja Zeit, taglang, war er doch von seiner Arbeit im Internationalen Gericht bis auf das Weitere freigestellt.
    Die einsetzenden Wehen seiner Frau hinderten ihn freilich am Aufbrechen. Wenig fehlte, und er hätte ihr das übelgenommen, wenn auch bloß einen winzigen Anfangsmoment. Dann aber sein: »Ich bin der Retter!«, was in dem Fall übrigens kaum amPlatz war. Ohne Eile oder Sorge die gemeinsame Fahrt zum reservierten Zimmer in der Klinik, und wenn Frau und Kind dann, durch eine Verkettung widriger Umstände, die hier nichts zur Sache tun, tatsächlich gerettet werden mußten, war nicht er es, der Mann und Vater, der die beiden rettete. Als die Operation unversehens nötig wurde, trieb er sich ahnungslos draußen in den Seitenstraßen herum, ganz Ohr für das Getöse vom nahen Fußballstadion, wo er, je nach Geschrei, so oder so, den Spielstand zu erraten versuchte. Bei der Rückkehr in die Klinik der Schreck, dann die Erleichterung, dann die Freude, und zuletzt wieder ein Schreck, jener im nachhinein, welcher noch lange anhielt.
    So ein Schrecken machte vergeßlich, und in der Folge vergaß mein Kindheitsfreund den Pilz, und überhaupt die Pilze. Oder vielleicht vergaß er ihn nicht, aber das Ding wurde unwesentlich – machte in seiner Vorstellung kein Wesen mehr von sich. Frau, Kind, sowie Wiedereintritt in den Anwaltsberuf, welcher ihn, »dank des Kindes«, schrieb er mir, frisch auf die Sprünge brachte, wurden nun »mein ein und alles«. Es blieb zwar nicht aus, daß er mit dem Neugeborenen in die inzwischen herbstlichen Wälder ging – seine Frau mied diese, allergisch gegen Waldluft, die zerstäubenden welken Blätter und die Spinnweben im Gesicht – und dabei Seitenblicke an die Wegränder und in die Baumzwischenräume warf. Aber kein einziges Mal wurde er so fündig, und das war ihm auch recht so, zumindest wenn er, mit nichts als dem Kind im Arm, aus dem Wald wieder heraußen war.
    So verging ein Jahr, vergingen zwei Jahre. Die einzige, kleine Nachwirkung des »Schatzfundes« (inzwischen in Anführungszeichen): Der Weg bergauf, an welchem er an jenem Sommernachmittag auf den einzelnen Steinpilz gestoßen war, hieß bei ihminsgeheim »der Vorgeburtsweg« und behielt, nebenbei gesagt, diesen Namen bis zu meines Freundes Verschollengehen.
    Es kam in der Folge mehr und mehr dazu, daß sich der Anwalt mit seinen Strafgerichtsakten in die so hausnahen Wälder aufmachte. Er bildete sich ein, daß insbesondere für das Ausarbeiten seiner Verteidigungsplädoyers die, wenn auch bloß unvollkommene Stille dort, im Verein mit dem nahezu beständigen Rauschen des Laubs, dem, Weltstadtnähe hin oder her, trotz allem vordringlichen Geräusch, die möglicherweise entscheidenden Zusätze fruchten ließe, oder auch die anders entscheidenden Pausen, Leerstellen, Abweichungen. Einbildung? Seltsamer Anwalt? Seltsam, vielleicht. Doch was anfangs nur Einbildung war, wurde mit der Zeit Faktum: Seine Plädoyers drangen durch, seine Angeklagten wurden, fast ohne Ausnahme, freigesprochen.
    Der Platz, wo er damals saß, auf dem Boden, an eine Buche gelehnt, den Baum mit der besonders glatten Rinde, immer noch in Anzug und Krawatte, den Hut neben sich, war eine freie Stelle, beinah in Kreisform, nicht groß genug für eine regelrechte Lichtung, zu groß, auch zu rund, zu geometrisch für einen bloß zufälligen Zwischenraum. Es war zwar ein Zwischenraum, aber ein wer weiß von wem vor vielen Jahren, von Holzfällern für ihr längst verschwundenes Lager geschaffener?, jedenfalls ein künstlicher. Der befand sich nicht etwa im Waldinnern, sondern gerade

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