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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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pilzbuchgeläufiger mächtiger Baum, nichts als eine schmächtige Robinie, kaum größer als ein bloßer Strauch, eins der Bäumchen, wie sie die Eisenbahnstrecken säumen, und von Wald oder gar Wäldern keine Spur, die Trüffel, sie ist zum Vorschein gekommen zwischen zwei eher kahlen Vorstädten, am Rand, nein, inmitten eines, ja, Kinderspielplatzes.
    Mein Freund machte sich dann zwar allsommerlich, nach jedem großen Nachtregen, auf den Weg zu der bewußten Kinderspielplatz-Robinie: Aber keine zweite Trüffel mehr, nimmermehr (und es blieb bei der einen Liebesnacht, welche sein Pilzbuch natürlich verschweigen sollte). Andererseits: Auch das Suchen nach Trüffeln war in seinen Augen etwas, das beim In-die-Pilze-Gehen nicht galt. Überhaupt sind die letzten Notate zu seinem Vorhaben weniger vom Erzählen bestimmt als vom Regel-Aufstellen, so strikten, daß sie ihm mehr zu bedeuten scheinen als bloße Spielregeln, und was ihm vorgeschwebt haben mag, gerät ihm zu einem Katalog von Gesetzen, Vorschriften, Proklamationen, Ideen.
    So kam ihm eines Tages, wieder in einem Wald, als er nicht zum ersten Mal Kinder auf Schnitzeljagd zwischen den Bäumen kreuz und quer, bergauf und bergab hetzen sah, »die Idee«, diese jungen Menschen sollten von ihren Lehrern oder Erziehern besser »in die Pilze« geschickt werden. Wo sie jetzt, auf der hektischen Suche nach einem von den Erwachsenen in einen Baumstrunk, einen Strauch, an den Eingang eines verlassenen Fuchsbaus ausgelegten Stück Papier, blind für alles andere, und nicht allein die Pilze, waren, ungewollt entzweibrachen, zertrampelten, zerquetschten, und waldweit, mit roten, gar nicht mehr Kinderköpfen und heraushängenden Zungen, einander zu- und an- und durcheinanderschrien oder, garnicht mehr mit Kinderstimmen, -brüllten, außer Atem, mit starr hervorgequollenen Augen, da würden sie, auf Pilzsuche, Schritt für Schritt zu gehen lernen, achtsam – nicht nur für das, auf was sie aus waren –, immer wieder atemlos – was etwas anderes war, als außer Atem zu sein –, die Augen würden ihnen, statt hervorzuquellen, groß werden, und ihr gelegentliches Aufschreien hier und dort wäre eines von Kindern wie nur je welchen, selbst bei denen im Stimmbruch.
    An seinem eigenen Kind, welches der Pilznarr von Anfang an mitnahm auf seine Expeditionen, hatte er ja erfahren, wie solch ein Unterwegssein ungezwungen »erzieherisch« wirkte, ohne einen speziellen Erzieher im Hintergrund, und, Erziehung hin oder her, außerdem dem Kind, »und nicht nur dem meinigen«, entsprach wie kaum sonst ein Unterwegssein, wozu noch kam, daß »mein Nachfahr« ein besseres Auge für die Dinge zu seinen Füßen hatte, »und nichtnur, weil diese ihm näher waren«. Ja doch: Diese seine Idee galt, und sie sollte gelten. »Das gäbe« – laut den Aufzeichnungen für sein Pilzbuch – »endlich wieder einmal, nach dem Bankrott auch noch der letzten Gesellschaftsideen in unserem lieben Jahrhundert, die Vorstellung, oder meinetwegen bloß die Ahnung, warum eigentlich ›bloß‹?, daß die, daß eine Gesellschaft doch weiterhin Zukunft hat. Es wird einmal. Es wird wieder.«
    Es hat überhaupt, den letzten Notaten nach, den Anschein, als habe das Pilzbuch meines Freundes darauf hinauslaufen sollen, die Pilzsucher nicht nur als Modell für eine neu mögliche Gesellschaft zusammenzusehen, sondern sie, darüber hinaus, jeden, Paradox oder nicht, einzeln als die letzten Abenteurer der Menschheit, wenn nicht gar die letzten Menschen auszumalen. Der einzelne Pilzsucher: als Abenteurer zugleich ein letzter wie erster Mensch.
    Die Pilze als »das letzte Abenteuer«? Für den Pilznarren sonnenklar, denn er gebrauchte das Wort in der Nachfolge der »Last Frontier«, der »Letzten Grenze« hin zur Wildnis, der Grenze, hinter der zumindest noch ein Zipfel Wildnis zu entdecken war. Diese Grenze gab es längst nicht mehr, weder in Alaska noch sonstwo, schon gar nicht im Himalaya. Das letzte Abenteuer hingegen gab es, noch, wer weiß wie lange noch, auch wenn man von ihm nur den Zipfel eines Zipfels zu fassen bekam.
    Die Pilze als »Last wilderness«, die »Letzte Wildnis«? Nach meinem Pilznarren wieder »sonnenklar«: Indem sie nämlich die inzwischen einzigen Gewächse auf Erden waren, welche sich nicht und nicht züchten, nicht und nicht zivilisieren, geschweige denn domestizieren ließen; welche einzig wild wuchsen, unbeeinflußbar von gleichwelchem menschlichen Eingriff.
    Die Champignons, die Austernpilze,

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