Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
sollte.
Hatte in den Anfangsjahren seine Leidenschaft für die Pilzwelt nicht nur sein Berufsleben, und sonst noch und noch schön Nebensächliches, sondern auch das Zusammensein mit Frau und Kind bereichert (»ihre, meiner Frau Liebe, ist eine Art von Humor«, so einmal er zu mir), so wurde das mit der Zeit anders, ihm selber unmerklich, umso merklicher seiner Frau. Tatsächlich ohne es zu merken, war er dabei, sie über seiner »Leidenschaft« zu vergessen. Die Leidenschaft war in Sucht, in ein Laster umgeschlagen, und seine Frau verlor den Humor. Sie verließ das gemeinsame Haus von einem Tag auf den anderen, und das Kind ging mit ihr. Es war eine Flucht, vor dem Mann wie vor seinen täglich, in Keller und Garage, und später nicht allein dort, anwachsenden und bald in Fäulnis und Verschimmeln übergehenden, ihr im Besonderen zugedachten »Mitbringseln« – Wort, von ihm ausgesprochen als ein Kosewort.
Vergleichbare Fluchten wie jene der Frau, mit den unterschiedlichsten Sujets und Vorzeichen, sind durch die Jahrhunderte schon oft erzählt worden, und das Angedeutete soll hier genügen. Nur eins: Der Pilznarr schien die Flucht seiner geliebten Frau gar nicht wahrzunehmen, und ebensowenig die Abwesenheit seines anders geliebten Kindes. Gleich am Morgen danach benutzte er die freie Stunde vor der Flugreise, mit dem Ziel eines Häftlingsbesuchs in einem fernen Land, rasch noch dazu, in die Wälder zu gehen, wenn auch der Weg, welchen er dabei nahm, freilich viel später, den Namen »Abwesenheitsweg« bekam.
Aber bereits lange vor der Flucht war sein Verhalten, war zuallererst seine Einstellung überhaupt zur Außenwelt, abgesehen davon, daß seine Nächsten ihm nach und nach aus dem Sinn gerieten, eine grundsätzlich, eine prononciert, eine ausdrücklich andere geworden; war umgeschlagen.Das schrieb mir seine Frau, die sich seine allabendlichen, dann auch -morgendlichen Tiraden zu Gemüte zu führen hatte.
War einmal sein Bild von sich das einer Randfigur gewesen, später aber, bekräftigt vom Erwachen seiner Leidenschaft, das eines dazugehörigen und die anderen ergänzenden, gleichberechtigten Rollenträgers im universellen Lebensspiel, so sah er sich entschieden als der, der schon seinerzeit als die kindliche Randfigur beim Windrauschenhören und Sichanregnen- und Anschneienlassen am Waldrand insgeheim das Szepter geführt hatte. – Wie das, als ein Pilzsucher? – Ja, als ein Pilzsucher, -sammler, -kenner.
Das zeigte sich darin, daß alles Sonstige für ihn mehr und mehr zur Nebensache wurde, ihm eben nichts als »Sonstiges« bedeutete, oder überhaupt aufhörte, zu existieren. Nicht bloß, daß er, ausgenommen die Pilzbücher von Neuseeland über den Hohen Atlas bis zu dem Pracht-Band namens The Mushrooms of Alaska – in denen übrigens die Pilze identisch waren –, das Lesen aufgab, daß er auch nicht mehr, weder zu zweit noch allein, ins Kino wollte, daß er keinerlei Reise mehr unternahm, weder allein noch zu dritt: Auch seinen Anwaltsberuf übte er mit der Zeit nicht einmal mehr mit der linken Hand aus.
Das war ihm gar nicht so recht bewußt, und er verfolgte keine Absicht damit. Es genügte ihm, am frühen Morgen – immer früher brach er auf in die Wälder – fündig geworden zu sein, und es war ihm, als sei die Tagesarbeit bereits geschafft, erübrigt das Studium der Akten und die vordem so Wort für Wort, Satz für Satz, samt den Pausen und den Absätzen rhythmisierten Plädoyers vor dem Weltgericht. Welt? Die Pilze zu erforschen, das allein hieß für ihn die Welt. Die Gerichtsarbeit, das Verteidigen der Angeklagten dort, dem einmal sein Herz gehört hatte, nahm er, in jedem Sinn, kaum mehr wahr, vergaß die ihm Anvertrauten. In seinen Wäldern – inzwischen seinen »Revieren« – fündig zu werden, gab ihm die Vorstellung, das für seine Angeklagten zu Schaffende sei schon geschafft, ähnlich wie es anderen vielleicht mit dem Musikhören vorgegaukelt wurde, und den Nachtmenschen mit dem zu bestehenden Folgetag. Mit jedem Schatzfund war ihm, er habe den Freispruch schon erwirkt, es sei sein Plädoyer schon in die Welt posaunt.
Es war schlimmer: Er hatte, wieder ihm unbewußt, auch unbeabsichtigt, angefangen, die ihm anvertrauten Gefangenen und Angeklagten zu verachten. Sie, die er vorher fast alle schön gefunden hatte, erschienen ihm von Termin zu Termin unansehnlicher. Kümmerer. Nichtexistenzen. Gebrochene. Gestrandete. Scheintote, ohne Perspektive, ohne Zukunft – ohne Vision!
Weitere Kostenlose Bücher