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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Wogegen er einer mit Vision war! – Wie? Kraft der Pilze, wo er doch gerade die, welche angeblich Visionen hervorriefen, aus seinem Gesichtskreis ausdrücklich ausschloß? – »Kraft seiner Wolkenohren, seiner ›Ninfas‹, seiner Ritter- und Kaiserlinge«, schrieb mir bitterlich seine Frau, die aus dem Nachbardorf. Hatte er zuvor, gerade als der »Fremdgeher« in den Wäldern, mit seinen Mandanten, den Angeklagten »aus aller Sklaven Länder«, gefühlt, so sah er inzwischen auf sie tatsächlich herab als auf Sklaven, denen, als Eingesperrten, nur recht geschah.
    Noch schlimmer, oder auch nicht, oder vielleicht anders schlimm, daß seine Verachtung für die ihm anvertrauten Angeklagten allmählich überging auf die Tribunalleute, ohne Unterschied nicht allein auf sämtliche Richter (»die Richter, nicht nur, daß sie immer unbarmherziger werden – sie sind auch dumm, sterbensdumm, und je näher man ihnen kommt, desto dümmer werden sie«), sondern auch die Dolmetscher, die Vertreter der Anklage wie die Vertreter der Verteidigung. Nur sich selbst erachtete er, und zwar jenseits seiner Arbeit, die ihm kaum mehr etwas galt, höher und höher, sah er sich doch als jemand Auserkorener. Zwischen seinen Akten, da eigens hineingepreßt, mehr und mehr Abdrücke von zuletzt tausendundeins Pilzarten, Muster wie von fremden Sonnensystemen.
    Es war dabei nicht einmal böse Absicht seinerseits, als er einmal mitten im Plädoyer eines seiner Gegenspieler, der gerade für das armselige Häufchen von Angeklagten eine lebenslängliche Strafe forderte, in seine Robe griff und sich und die Gerichtswelt vergaß im Betrachten der Dinge, welcher wohl?, in seinem Handteller wie auch ihrem Beschnüffeln. Im Umlauf blieb auch noch lange die Geschichte, wie der Pilznarr eines Tages, in einem besonders feierlichen Prozeßmoment, sagen wir, beim Sicherhebenaller zur Urteilsverkündung, dieses Mal in der wohl unbestreitbaren Absicht, den Ernst des Gerichts zumindest herabzuspielen, zwar auch aufstand von seinem Verteidigerplatz, aber, als am langen Richtertisch das internationale, ja interkontinentale Richtertriumvirat sich zur Strafausspruchszeremonie, wie in einer einzigen Bewegung, »wie ein Mann«, die Barette auf die Köpfe setzte, sich simultan, und gleichfalls mit beiden Händen, ein ziemlich ähnliches Insignium überstülpte, welches in der Wirklichkeit ein mächtiger Schirmpilz, eine coulemelle , eine culumella iganta , eine makrolepiota war.
    Die in sein Haus Eingeladenen – in jener Periode kamen die noch, und gar nicht so wenige – hatten damit zu rechnen, so oder so, vom Einfall der Dämmerung bis Mitternacht mit Pilzbeschwörungen, -rhapsodien, -symphonien, -gedichten, -fabeln und -kantaten traktiert zu werden, womit weniger die Speisen selber als seine von Jahr zu Jahr sichsteigernde Berauschtheit gemeint war. Es gab für ihn zuletzt, über die Mitternächte hinaus, kein anderes Thema mehr. Er ließ es auch nicht zu. Die Pilze, wie schon bemerkt, waren das letzte Abenteuer, und er war ihr Prophet. Am hintersten, nein, dem einzigen Horizont standen sie. Um sie drehte sich die Weltachse, eingeschlossen das Wetter, das zum Pilz- oder Nichtpilzwetter wurde. Sein erster Gedanke am Morgen: »Auf in den Wald. Auf in die Wälder. Auf in die Pilze!« Sein erster Gedanke? Sein im Lauf der Zeit wie der Jahreszeiten, sommers wie winters, einziger Gedanke? »Gedanke«? Wie auch immer: Er erzählte, am Ende nur noch mit mir als Zuhörer, tag- und abendlang von einer Fundstelle, als handle es sich um eine große Sache, und verlor kein Wort über die täglichen Katastrophen, die sich häufenden, der Weltgeschichte; wollte mit seinem Heraufbeschwören und Geraune gar nicht mehr aufhören.
    Die Verachtung ging über auf alle die, galt denen, welche nicht seinesgleichen waren, »ausgenommen uns, die Seinen, die hat mein geliebter Mann liebend vergessen …« Als Pilzsucher sah er sich zugleich als Schützer, und beides zusammen machte aus ihm den Herrn der Wälder, oder, wie er sich in seinem ungeschriebenen Pilzbuch selber nennen wollte, zum »Sohn des Pfades«, was eine Übersetzung aus dem Arabischen war und angeblich einen Krieger bedeutete, einen Krieger im Heiligen Krieg. Ja, er führte, zuerst insgeheim, dann offen, wenn auch nur mit Worten, Krieg gegen alle, die nicht wie seinesgleichen auf dem Pfad waren, über die Wälder hinaus, im Wald jedoch im besonderen. Wehe sogar den spielenden, das heißt mit Spielzeugpistolen einander

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