Reine Glückssache
von ihr ausging. Ihre flinken, dunklen Augen erkannten ein Staubkörnchen auf zwanzig Schritt Entfernung. Sie war eine strenge Wächterin über die Familie und thronte bei Zusammenkünften der Sippe am Kopfende des Tisches. Seit vielen Jahren Witwe, hatte sie nie auch nur das geringste Interesse bekundet, sich ein zweites Mal zu verheiraten. Nach einem Leben mit einem Morelli-Mann hatten die meisten Frauen die Schnauze voll.
Grandma Bella war einen halben Kopf kleiner als Joes Mutter, aber Angst und Schrecken verbreitete auch sie. Ihr weißes Haar hatte sie hinten im Ansatz des schmalen zarten Vogelnackens zu einem Knoten zusammengebunden. Sie trug düstere schwarze Kleider und robustes Schuhwerk. Es gab Menschen, die glaubten, sie hätte die Fähigkeit, andere Menschen mit einem Fluch zu belegen. Erwachsene Männer gingen in Deckung, wenn der Blick ihrer blassen Altfrauenaugen auf sie fiel oder sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf sie zeigte.
»Es ist nur vorübergehend«, klärte ich Mrs. Morelli und Bella auf. »Ich musste für ein paar Tage aus meiner Wohnung ausziehen, und Joe war so nett, mich aufzunehmen.«
»Ha!«, sagte Bella. »Frauen wie Sie kenne ich. Sie nutzen doch nur die Gutmütigkeit meines Enkels aus. Und kaum hat man sich versehen, haben Sie ihn verführt, und Sie sind schwanger. Ich kenne mich aus. Ich habe es deutlich in meinen Visionen gesehen.«
Meine Fresse! Ich konnte nur hoffen, dass diese Visionen nicht allzu anschaulich waren. Der Gedanke, dass ich in Bellas Heimkino als der nackte Vamp herumgeisterte, gefiel mir überhaupt nicht.
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte ich. »Ich werde nicht schwanger.«
Ich spürte, wie Joe sich von hinten an mich heranschob.
»Was ist los?«, fragte Joe seine Mutter und seine Oma.
»Ich hatte eine Vision«, sagte Bella. »Ich wusste, dass sie hier ist.«
»Ich bin eben ein Glückspilz«, sagte er. Er fuhr mit der Hand durch mein Haar.
»Ich sehe Babys«, sagte Bella. »Pass auf, was ich dir sage: Die da ist schwanger.«
»Wäre schön«, sagte Joe, »aber ich glaube es nicht. Du wirfst deine Visionen durcheinander. Stephanies Schwester ist schwanger. Gleiche Welle, falsche Stelle.«
Mir blieb die Spucke weg. Hatte Joe gerade gesagt, er fände es schön, wenn ich schwanger wäre?
Nachdem Joe zur Arbeit gegangen war, suchte ich mir im Internet die McDonald’s-Filialen in der näheren Umgebung heraus. Nacheinander wählte ich die Telefonnummern, die auf dem Schirm erschienen, fragte nach einem Howie, und beim dritten McDonald’s landete ich einen Treffer. Ja, wurde mir gesagt, ein Mann namens Howie arbeitet hier. Er würde um zehn Uhr anfangen.
Es war noch früh, deswegen setzte ich mich in mein vergnügtes gelbes Autochen und schaute im Büro vorbei, bevor ich mich in die Stadt auf die Suche nach Howie begab.
»Gibt’s was Neues?«, fragte ich Connie.
»Vinnie ist im Knast, Kautionen ausstellen. Und Lula ist noch nicht aufgekreuzt.«
»Doch«, sagte Lula, die im selben Moment durch die Tür gerauscht kam, um die Schulter eine riesige Einkaufstasche, in der einen Hand einen Plastikbecher mit Kaffee, in der anderen eine braune Packpapiertüte. »Ich musste erst noch im Supermarkt einkaufen, weil, ich brauche nämlich Spezialkost. Es gibt einen neuen Mann in meinem Leben, und ich habe gemerkt, dass ich zu viel Frauliches an mir habe, und deswegen will ich abnehmen. Ich mache ein Supermodel aus mir. Ich will fünfzig Kilo verlieren.
Es ist kinderleicht, weil ich gestern Abend den FatBusters beigetreten bin. Jetzt habe ich alles, was ich zum Abnehmen brauche. Ein Notizbuch, in das ich immer eintrage, was ich esse. Und das Buch von den FatBusters, in dem genau erklärt wird, wie die Sache funktioniert. Jedes einzelne Lebensmittel bekommt eine Zahl zugewiesen. Man braucht nur die Zahlen zu addieren und aufpassen, dass man sein Limit nicht überschreitet. Mein Limit ist zum Beispiel neunundzwanzig.«
Lula stellte die Einkaufstasche auf dem Boden ab, ließ sich aufs Sofa fallen und holte einen kleinen Notizblock hervor. »Also, dann wollen wir mal«, sagte sie. »Das ist mein erster Eintrag ins Büchlein. Der Anfang für ein neues Leben ist gemacht.«
Connie und ich warfen uns viel sagende Blicke zu.
»Oje«, sagte Connie.
»Ich weiß, ich habe schon viele Diäten ausprobiert, und keine hat funktioniert, aber diese hier ist anders«, sagte Lula.
»Diese hier ist realistisch. Jedenfalls steht das in der Broschüre. Die ist anders
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