Reise im Mondlicht
übereinandergelegt. Er war nicht müde, aber sehr traurig.
Gab es für ihn noch Hilfe? Führte sein Weg noch irgendwohin?
Er kniete sich nieder und betete, seit vielen Jahren zum ersten Mal.
Dann ging er ins Bett, konnte aber auf der harten Unterlage in der ungewohnten Umgebung lange nicht einschlafen. Die Pilger
wälzten sich unruhig hin und her, seufzten und stöhnten im Traum. Der eine rief den Heiligen Joseph, die Heilige Katharina
und die Heilige Agathe an. Es wurde schon hell, als Mihály endlich einschlief.
Am Morgen erwachte er mit dem Gefühl, von Éva geträumt zu haben. An den Traum erinnerte er sich zwar nicht, aber er spürte
am ganzen Körper die weiche Euphorie, die nur der Traum und, ganz selten, die wache Liebe hervorzurufen vermag. Es war ein
merkwürdiges, krankhaft süßes, sanftes Gefühl, das paradox wirkte im Vergleich zu dieser harten, asketischen Lagerstatt.
Er stand auf und wusch sich mit etlicher Selbstüberwindung in einem nicht gerade modern zu nennendenWaschraum, dann trat er
auf den Hof hinaus. Es war ein strahlender, kühler, windiger Morgen, die Glocken läuteten gerade zur Messe, von allen Seiten
eilten Mönche, Laien, Klosterdiener und Pilger herbei. Auch Mihály trat in die Kirche und hörte mit Andacht die unvergänglichen
lateinischen Worte der Messe. Ein feierliches Glücksgefühl erfüllte ihn. Bestimmt würde ihm Ervin sagen, was er machen sollte.
Vielleicht würde er Buße tun müssen. Ja, er würde ein einfacher Arbeiter werden, mit seiner Hände Arbeit das tägliche Brot
verdienen … Etwas Neues, so fühlte er, begann in ihm, und der Gesang erscholl um seinetwillen, und um seiner Seele willen klangen die
frischen, volltönenden Frühlingsglocken.
Nach der Messe ging er auf den Hof hinaus. Ervin kam ihm lächelnd entgegen.
|127| »Wie hast du geschlafen?« fragte er.
»Gut, sehr gut. Ich fühle mich heute ganz anders als gestern, ich weiß gar nicht, warum.«
Er blickte erwartungsvoll auf Ervin. Als dieser nichts sagte, fragte er:
»Hast du darüber nachgedacht, was ich machen soll?«
»Ja, Mihály«, sagte Ervin leise. »Ich glaube, du solltest nach Rom gehen.«
»Nach Rom?« fragte Mihály verblüfft. »Warum? Wie bist du darauf gekommen?«
»Gestern nacht während des Chorgebets … ich kann dir das nicht erklären, du kennst diese Art von Meditation nicht … jedenfalls weiß ich, daß du nach Rom gehen mußt.«
»Aber warum, Ervin, warum?«
»So viele Pilger, Flüchtige und Flüchtlinge sind im Lauf der Jahrhunderte nach Rom gegangen, und dort ist so vieles geschehen … im Grunde ist immer alles dort geschehen. Deshalb heißt es, alle Wege führen nach Rom. Geh nach Rom, Mihály, und dort siehst
du dann. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.«
»Und was soll ich in Rom tun?«
»Das spielt keine Rolle. Du kannst vielleicht die vier großen Basiliken der Christenheit besuchen. Fahr zu den Katakomben
hinaus. Was du willst. In Rom wird es einem nicht langweilig. Und vor allem tu nichts. Überlaß dich dem Zufall. Ganz ohne
Programm … Machst du’s?«
»Ja, Ervin, wenn du es sagst.«
»Dann fahr gleich los. Heute siehst du nicht so gehetzt aus wie gestern. Nutze diesen Glückstag für die Abreise. Geh. Gott
mit dir.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, umarmte er Mihály, hielt wieder priesterlich die Wangen an sein Gesicht und eilte weg. Mihály
stand eine Weile verblüfft an Ort und Stelle, ging dann sein Bündel schnüren und machte sich auf den Weg.
|128| 6
Nachdem Erzsi das Telegramm erhalten hatte, das mit Hilfe des kleinen Faschisten von Mihály gekommen war, blieb sie nicht
länger in Rom. Nach Hause fahren wollte sie nicht, weil sie nicht wußte, wie sie in Budapest die ganze Geschichte darstellen
sollte. Einer bestimmten geographischen Gravitation folgend fuhr sie nach Paris, so wie man es zu tun pflegt, wenn man hoffnungslos
ist und ein neues Leben beginnen will.
In Paris suchte sie Sári Tolnai auf, ihre Kindheitsfreundin. Diese war schon in früher Jugend für ihre energische Persönlichkeit
und große Brauchbarkeit berühmt gewesen. Zum Heiraten hatte sie keine Zeit gehabt, immer wurde sie im Geschäft, in der Firma
oder bei der Zeitung, wo sie gerade arbeitete, allerdringendst benötigt. Ihr Liebesleben wickelte sie wie ein Handelsreisender
nebenbei ab. Dann, als sie von allem genug hatte, emigrierte sie nach Paris, um dort ein neues Leben zu beginnen, worauf sie
genau das
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