Reise im Mondlicht
er, nun ja, wegen seines untätigen
Lebens doch hatte. Mihály hatte zwar nie gern gearbeitet, aber während seiner bürgerlichen Jahre doch viel geschuftet, da
er abends gern das Gefühl hatte, tagsüber etwas geleistet zu haben. Und das Lernen lenkte ihn von seiner anderen und wichtigeren
Beschäftigung ab, die darin bestand, daß er Éva suchte.
Er konnte sich nicht damit abfinden, daß er sie nie mehr sehen sollte.Nach jenem denkwürdigen Abend war er benommen durch
die Stadt getorkelt, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, doch später sah er ganz klar, daß er nur eines wollen konnte,
wenn das Wort wollen hier überhaupt angebracht war. Die Scholastiker hatten gelehrt, daß das Sein Abstufungen hat und nur
der Vollkommene ganz und wirklich existiert. Die Zeit, die er mit der Suche nach Éva verbrachte, war viel existenter, viel
wirklicher als die Monate und Jahre ohne sie. Trotz seiner Beklommenheit und seines Untergangsgefühls wußte er, daß das, ob
gut oder schlecht, das Leben war und daß es ohne Éva keine andere Wirklichkeit gab als das Denken an Éva und das Warten auf
sie.
Er war müde, fühlte sich verkommen und zog ein Bein nach. Als er das Tiberufer erreichte, wurde ihm bewußt, daß ihm jemand
folgte. Doch dann dachte er, es sei bloß Einbildung.
Aber als er durch die Gassen von Trastevere hinkte, wurde das Gefühl stärker. Ein heftiger Wind kam auf, und die Gassen waren
leerer als sonst.Wenn mir jemand folgt, muß ich ihn sehen, dachte er, und drehte sich von Zeit zu Zeit um. Doch hinter ihm
gingen mehrere Personen. Vielleicht folgt mir jemand, vielleicht auch nicht.
Als die Straßen anzusteigen begannen, legte sich das Gefühl, |195| verfolgt zu werden, so schwer auf ihn, daß er nicht hügelaufwärts abbog, sondern weiter durch die Gassen von Trastevere streunte,
während er sich überlegte, daß er den Verfolger an einem geeigneten Ort erwarten würde.Er blieb vor einer kleinen Osteria
stehen. Wenn er mich angreifen will (das ließ sich in Trastevere durchaus vorstellen), kann ich hier am ehesten auf Hilfe
hoffen, jemand wird doch wohl aus der Osteria herauskommen, wenn ich schreie. Aber auf jeden Fall will ich ihn erwarten.
Er stand vor der Osteria und wartete. Mehrere von den Personen, die hinter ihm gewesen waren, kamen vorbei, aber niemand kümmerte
sich um ihn, jeder ging seines Weges. Er wollte schon weitergehen, als sich im Halbdunkeln ein Mensch näherte, von dem Mihály
gleich wußte, daß er es war. Mit Herzklopfen sah er, daß der Verfolger geradewegs auf ihn zukam.
Als sich die Gestalt genähert hatte, erkannte er János Szepetneki. Das Überraschendste, das vielleicht einzig Erstaunliche
am Ganzen war, daß er kaum staunte.
»Servus«, sagte er leise.
»Servus, Mihály«, sagte Szepetneki laut und jovial. »Gut, hast du endlich auf mich gewartet. Ich wollte mit dir sowieso gerade
in diese Kneipe. Also, komm.«
Sie betraten die kleine Osteria, deren Hauptmerkmal, abgesehen von ihrem Geruch, die Dunkelheit war. Den Geruch konnte Mihály
ertragen, seltsamerweise störten die italienischen Gerüche seine sonst empfindliche Nase nicht. Hier hatte sogar der Gestank
etwas Ergreifendes, Romantisches. Die Dunkelheit hingegen gefiel ihm nicht. Szepetneki rief auch gleich nach einer Lampe.
Sie wurde von einem schlampigen, wunderschönen Mädchen gebracht, die große Ohrringe trug, glänzende Augen hatte und unglaublich
mager war. Offenbar kannte Szepetneki sie seit langem, er tätschelte sie, worauf sie mit großen, weißen Zähnen lächelte und
im Trastevere-Dialekt eine Geschichte zu erzählen anfing, von der Mihály kaum ein Wort verstand, während János, wie alle Schlawiner
ein Sprachtalent, fachgerechte Bemerkungen beisteuerte. Das Mädchen brachte Wein, setzte sich zu ihnen an den Tisch und redete.
János hörte ihr begeistert zu und vergaß Mihály |196| völlig. Höchstens, daß er zuweilen auf ungarisch Kommentare abgab wie:
»Tolle Frau, was? Die haben’s in sich, die Italiener!« Oder:»Siehst du, wie sie die Augen rollt? Wer kann das schon in Budapest!«
Oder: »Sie sagt, bisher seien alle ihre Verehrer im Gefängnis gelandet, und ich würde das sicher auch … Köpfchen hat sie, was?« Mihály kippte nervös ein Glas nach dem anderen hinunter. Er kannte Szepetneki und wußte, daß er
mit der eigentlichen Angelegenheit nicht so rasch herausrücken würde. Szepetneki brauchte zu allem die entsprechende
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