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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sein, denn morgen oder übermorgen wirst du das Nicht-tun lernen.«
»Was werde ich lernen?« fragte ich. »Sorg dich jetzt nicht darum«, sagte er. »Warte, bis wir in diesen Lavabergen sind.« Er deutete auf einige ferne, zerklüftete, dunkle, bedrohlich aussehende Gipfel im Norden.
Donnerstag, 12. April 1962
    Am Spätnachmittag erreichten wir das Wüstenplateau, das die Lavaberge umgab.
    Aus der Ferne sahen die dunkelbraunen Bergrücken fast unheimlich aus. Die Sonne stand sehr niedrig über dem Horizont und beschien die westlichen Flanken der erstarrten Lava, deren dunkelbraune Farbe sie mit einer blendenden Fülle gelber Farbtupfer überzog.
    Ich konnte die Augen nicht davon abwenden. Diese Gipfel waren wirklich faszinierend.
    Gegen Ende des Tages sahen wir schon die unteren Hänge der Berge. Auf dem Wüstenplateau gab es sehr wenig Vegetation; alles, was ich sah, waren lediglich Kakteen und hochwüchsiges, in Büscheln wachsendes Gras.
    Don Juan machte halt, um zu rasten. Er setzte sich, lehnte die Kalebassen mit unserem Proviant vorsichtig gegen einen Stein und meinte, wir sollten die Nacht an dieser Stelle verbringen. Er hatte einen relativ hoch gelegenen Platz gewählt. Von dort, wo ich stand, konnte ich ringsum weit in die Ferne blicken. Es war ein bewölkter Tag, und die Dämmerung breitete sich schnell über die Landschaft aus. Ich war ganz damit beschäftigt, zu beobachten, wie schnell das Karmesinrot der Wolken im Westen zu einem einheitlich dunklen Grau verblaßte. Don Juan stand auf und ging ins Gebüsch. Als er zurückkam, war die Silhouette der Lavaberge eine dunkle Masse. Er setzte sich neben mich und machte mich auf etwas aufmerksam, das eine natürliche Gesteinsformation der nordöstlich gelegenen Berge zu sein schien. Es war eine Stelle, deren Farbtönung viel heller war als die der Umgebung. Während die ganze Kette der Lavaberge im Zwielicht einheitlich dunkelbraun aussah, war die Stelle, die er mir zeigte, eher gelblich oder von einem dunklen Beige. Ich konnte nicht feststellen, um was es sich da handeln mochte. Lange starrte ch hin. Es schien sich zu bewegen. Ich bildete mir ein, daß es pulsierte. Wenn ich die Augen zusammenkniff, wogte es sogar auf und ab, als würde es vom Wind bewegt. »Sieh genau hin!« befahl Don Juan.
    Etwas später, nachdem ich einige Zeit hingestarrt hatte, glaubte ich, die ganze Bergkette bewege sich zu mir her. Dieser Eindruck war von einer ungewöhnlichen Unruhe in meiner Magengrube begleitet. Das Unbehagen wurde so stark, daß ich aufstehen mußte.
    »Setz dich!« schrie Don Juan, aber ich stand bereits aufrecht. Aus meinem neuen Blickwinkel sah ich das gelbliche Gebilde etwas tiefer an der Bergflanke liegen. Ich setzte mich wieder, ohne die Augen abzuwenden, und das Gebilde rückte an eine höhere Stelle. Ich starrte es einen Augenblick an, und plötzlich fügte sich für mich alles in die richtige Perspektive. Ich erkannte, daß das, was ich gesehen hatte, sich gar nicht in den Bergen befand, sondern daß es ein gelblich-grünes Stück Tuch war, das von einem hohen Kaktus vor mir herabhing.
    Ich lachte laut auf und erklärte Don Juan, daß das Zwielicht dazu beigetragen hatte, eine optische Illusion eitstehen zu lassen. Er stand auf und ging zu der Stelle, wo das Tuch hing, nahm es herab, faltete es zusammen und steckte es in seinen Beutel. »Wozu machst du das?« fragte ich.
    »Weil dieses Stück Tuch Kraft hat«, sagte er beiläufig. »Für diesmal hast du es gut genutzt, und wir wissen nicht, was geschehen wäre, wenn du sitzen geblieben wärest.«
Freitag, 13. April 1962
    Bei Morgengrauen brachen wir in die Berge auf. Sie waren überraschend weit entfernt. Gegen Mittag gingen wir in einen der Canyons. In flachen Tümpeln stand etwas Wasser. Wir setzten uns, um im Schatten einer überhängenden Klippe zu rasten. Die Berge bestanden aus Brocken eines gigantischen Lavastroms. Die verfestigte Lava war in Jahrtausenden zu porösem, dunkelbraunem Fels verwittert. Nur einige widerstandsfähige Kräuter wuchsen zwischen den Felsen und in den Spalten. Als ich die beinah senkrechten Wände des Canyons ansah, hatte ich ein komisches Gefühl in der Magengrube. Die Wände waren mehrere hundert Meter hoch und mir war fast, als schlössen sie sich über mir zusammen. Die Sonne stand nahezu senkrecht, etwa in südwestlicher Richtung, über uns.
    »Stell dich hierhin«, sagte Don Juan und drehte meinen Körper, so daß ich zur Sonne schaute. Er sagte, ich solle den Blick

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