Reise ohne Wiederkehr
gestrichene Schiffspassagen und die politische Verfolgung durch die französische Polizei gaben ihnen das Gefühl, selbst im noch unbesetzten Teil Frankreichs in der Falle zu sitzen und zusehen zu müssen, wie die Chancen auf Ausreise immer geringer wurden. Der Schriftsteller Hans Sahl (geboren 1902 in Dresden, gestorben 1993 in Tübingen) hielt die Stimmung in einem Gedicht,
Marseille IV
, fest:
Wir denken nicht, wir fühlen nicht, wir warten,
Wir tragen unsre Unrast durch die Zeit,
Wir stehen tagelang vor Konsulatsportalen,
Wir haben nichts als unsere Haut zu zahlen
Und jagen nach Papieren, Stempeln, Scheinen,
Wir sind von früh bis abends auf den Beinen
Und sind noch hier.
|34| Wir leben nicht, wir sterben nicht, wir warten,
Wir laufen um die Wette mit dem Tod,
Wir wissen alle, dass wir warten müssen,
Wir sind schon tot, bevor wir es selbst wissen,
Und spielen mit Gefühlen wie mit Bällen,
Wir lassen uns von jedem Dummkopf prellen
Und buchen Plätze auf Gespensterschiffen,
Wir haben unser Schicksal längst begriffen
Und sterben nicht. 19
Hans Sahl
Der in Berlin aufgewachsene Hans Sahl studierte in Leipzig und Breslau Literatur und Kunstgeschichte. Im Anschluss an seine Promotion 1924 kehrte er nach Berlin zurück und begann eine Karriere als Literatur- und Filmkritiker; parallel schrieb er Gedichte und Theaterstücke. 1933 hatte er gerade einen Vertrag mit dem Rowohlt Verlag unterzeichnet, um ein Buch über die Geschichte des Stummfilms zu verfassen, musste dann aber fliehen, weil er Jude und Kommunist war. Im französischen Exil schrieb er Texte für die „Pfeffermühle“. 1939 wurde er interniert, entkam und floh vor der deutschen Armee nach Marseille; während dieser Zeit brach er mit dem Marxismus und der Kommunistischen Partei. Mit Hilfe des Emergency Rescue Committee, für das er in Marseille arbeitete, gelang ihm 1941 die Ausreise in die USA. In New York lebte er von Übersetzungsarbeiten und schrieb Gedichte und Hörspiele, vielfach mit biographischem Hintergrund.
Hilfe aus Übersee –
Das Emergency Rescue Committee
Mehreren tausend Flüchtlingen kam in dieser scheinbar aussichtslosen Situation die Hilfe des Emergency Rescue Committee zugute, das der amerikanische Journalist Varian Fry (geboren 1907 in New York City, gestorben 1967 in Easton, Connecticut) in Marseille repräsentierte. |35| Gegründet worden war das Komitee von sozialistisch orientierten Intellektuellen in den USA, die Verbindungen nach Europa hatten und Geld sammelten, um den polnischen, tschechischen, französischen, deutschen und österreichischen Verfolgten zu helfen. Eleanor Roosevelt, Ehefrau des US-Präsidenten Theodor Roosevelt, überzeugte auf Bitten des Komitees ihren Mann, ein Spezialvisum für verfolgte Wissenschaftler, Künstler, Politiker und Gewerkschafter zu schaffen, um ihnen die Ausreise zu erleichtern; dieses Visum vermittelte Fry den Exilanten. Geflohene Schriftsteller und Künstler sowie Mitarbeiter der Rockefeller Foundation, des Museum of Modern Art und der New School for Social Research in New York erstellten Listen mit den Namen derjenigen, die in besonderer Gefahr waren. Unter dem Deckmantel einer amerikanischen Organisation, deren Ziel es war, die Ausreise von Flüchtlingen in die USA zu erleichtern, verhalf Fry den Flüchtlingen zur Ausreise aus Frankreich. Er arrangierte Reiserouten, mietete zwischenzeitlich eine Villa, um einige der Verfolgten zu verstecken, und besorgte ihnen Geld, gefälschte Pässe, Aufenthaltsgenehmigungen sowie Ausreise- und Transitvisa. Um die Papiere kümmerte sich der tschechoslowakische Konsul in Marseille, Vladimír Vochoč. Auf teils abenteuerlichen Wegen wurden die Flüchtlinge schließlich über die Landesgrenzen geschleust. In Zusammenarbeit mit dem im Widerstand aktiven Ehepaar Lisa und Hans Fittko und dem hilfsbereiten Bürgermeister eines kleinen Grenzdorfes gelangten 200 Menschen zu Fuß über die Pyrenäen und von dort über Lissabon in die USA. Hannah Arendt, Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger sowie mehreren tausend anderen (prominenten und weniger prominenten) Flüchtlingen glückte mit Frys Hilfe die Flucht in die Vereinigten Staaten.
Gescheiterte Flucht
Nicht alle der etwa 40 000 deutschen und österreichischen Juden, die sich bei Kriegsbeginn in Frankreich aufhielten, konnten das Land rechtzeitig verlassen. Fast 10 000 wurden von den Franzosen an die |36| Deutschen ausgeliefert, die übrigen seit 1942 in die
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