Reise ohne Wiederkehr
Vernichtungslager deportiert. 20 Einer derjenigen, denen die Ausreise in die Vereinigten Staaten nicht gelang, war der Kunstkritiker, Kulturwissenschaftler und Philosoph Walter Benjamin (geboren 1892 in Berlin, gestorben 1940 in Port Bou). Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, bewegte sich in den Zwanzigerjahren im Umkreis linker Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Georg Lukács und war mit Bertolt Brecht befreundet. Seine Arbeit war vom Marxismus einerseits, von der jüdischen Theologie andererseits inspiriert – eine Mischung, die ihn aus Sicht der Nationalsozialisten eindeutig zum Gegner machte. Sein Bruder Georg, ein Arzt und kommunistischer Stadtverordneter, wurde gleich nach der NSDAP-Machtübernahme festgenommen und misshandelt; 1942 starb er im Konzentrationslager Mauthausen. Walter Benjamin gelang die Flucht nach Frankreich. In Paris schrieb er u. a. für die Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothèque Nationale, wo er an einer kulturwissenschaftlichen Studie über Paris im 19. Jahrhundert sowie an einem Buch über den Lyriker Charles Baudelaire arbeitete.
Anfang 1939 wurde Benjamin die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, er selbst mit Kriegsbeginn interniert. Französische Freunde setzten sich für seine Entlassung ein, sodass er nach einigen Monaten nach Paris zurückkehren konnte; von dort aus bemühte er sich um Ausreisegenehmigungen in die USA und Palästina. Kurz vor dem Einzug der deutschen Truppen nach Paris im Sommer 1940 fuhr Benjamin nach Lourdes und von dort weiter nach Marseille, wo ihn ein amerikanisches Visum erwartete, das Max Horkheimer besorgt hatte. Allerdings fehlte ihm das französische Ausreisevisum, und so begab er sich, obwohl er schwer herzkrank war, Ende September 1940 unter Führung von Lisa Fittko (geboren 1909 in Uzhgorod, Ukraine, gestorben 2005 in Chicago) gemeinsam mit einigen anderen deutschen Flüchtlingen auf den illegalen Weg über die Pyrenäen. Als er in Port Bou, dem spanischen Grenzort, ankam, verweigerten ihm die Behörden die Einreise. Benjamin fürchtete, von den Franzosen erneut interniert oder an die Gestapo ausgeliefert zu werden. Damit bestätigte sich |37| seine pessimistische Empfindung, die er kurze Zeit zuvor in einem Brief an Theodor W. Adorno beschrieben hatte:
Die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt [,] jede Zeitung [...] wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören. 21
Um der erzwungenen Rückkehr nach Frankreich bzw. Deutschland zu entgehen, nahm sich Benjamin in einem Hotelzimmer in Port Bou am Abend des 26. September 1940 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Er wurde auf dem Friedhof des Grenzorts begraben, in dem heute ein Denkmal an ihn erinnert.
Irrfahrten
Auch jene Flüchtlinge, die mehr Glück hatten und einen Platz auf einem Schiff ergatterten, konnten sich noch nicht in Sicherheit wägen. Immer mussten sie damit rechnen, am Ziel der Reise nicht an Land gelassen oder gar zurückgeschickt zu werden. Dies war das Schicksal jener fast tausend Flüchtlinge, die sich an Bord der S.S. St. Louis befanden, die im Mai 1939 von Hamburg nach Kuba fuhr; einige von ihnen waren erst kurz zuvor aus deutschen Konzentrationslagern entlassen worden. Als das Schiff im Hafen von Havanna ankam, verweigerte die kubanische Regierung fast allen Emigranten die Einreise. Aus Verzweiflung versuchten sich einige von ihnen das Leben zu nehmen. Der spätere Arzt und Forscher Arno Motulsky (geboren 1924 im damaligen Fischhausen, Ostpreußen) war als Fünfzehnjähriger mit seiner Mutter und zwei Geschwistern auf dem Schiff; er empfand die Situation in erster Linie als Abenteuer. Sein Vater war bereits 1938 nach Kuba geflohen und wartete im Hafen von Havanna auf seine Familie. Als das Schiff vor dem Hafen ankerte, mietete er ein Motorboot und fuhr zur St. Louis hinaus, konnte seine Frau und Kinder aber |38| nur aus der Distanz sehen. Schließlich musste er beobachten, wie das Schiff nach einigen Tagen den kubanischen Hafen wieder verließ und Kurs auf Florida nahm. Die Bemühungen einer jüdischen Organisation, eine amerikanische Einreisegenehmigung für die Flüchtlinge zu erwirken, scheiterten, und so musste das Schiff nach Europa zurückkehren – eine schreckliche Vorstellung
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