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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna R. Unger
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sich mit anderen Exilanten zusammen und eröffneten deutsche Bäckereien und Cafés, Metzgereien, kleine Handwerksbetriebe usw., die im Laufe der Jahre oftmals zu gut gehenden Unternehmen heranwuchsen und bald fester Bestandteil der lokalen oder regionalen Wirtschaft waren.
    Abgesehen vom wirtschaftlichen Überleben bedeutete die Ankunft der Flüchtlinge im Exilland auch eine Herausforderung an die bisherige, individuelle wie kollektive Identität. Viele derjenigen, die aufgrund ihrer Kategorisierung als „jüdisch“ aus Europa geflohen waren, wurden im Gastland plötzlich in erster Linie als Juden und nicht als Deutsche oder Österreicher wahrgenommen – so etwa die Kronheims aus Berlin-Halensee. Die vierköpfige Familie – Käthe, ihr Ehemann Heinz, ein Uhrmacher, und die elf- und achtjährigen Kinder Anna und Ernst – floh 1938 nach Shanghai. Zuvor war Heinz Kronheim im Zuge des Novemberpogroms verhaftet, im Konzentrationslager |43| Buchenwald inhaftiert und nur unter der Auflage entlassen worden, Deutschland sofort zu verlassen. In Shanghai wurde die Familie vom Jüdischen Hilfskomitee mit den Worten empfangen „Willkom men in Shanghai. Jetzt sind Sie nicht mehr Deutsche und Österreicher. Jetzt sind Sie nur noch Juden.“ 2
    Doch die Kronheims, die aus Ostpreußen nach Berlin gezogen waren, verstanden sich gar nicht als Juden. Ihre Kinder hatten am christlichen Religionsunterricht teilgenommen, und die jüdischen Feiertage hatte die Familie nur unregelmäßig gefeiert. In Shanghai hatten sie jedoch fast nur zu der jüdischen Gemeinde Kontakt, die sie mit Geld und anderen Dingen unterstützte. Allerdings versuchten die Kronheims so schnell wie möglich von fremder Hilfe unabhängig zu werden und verließen das Auffanglager des Hilfskomitees. Sie hofften, auf Dauer nicht in Shanghai bleiben zu müssen, das ihnen allzu andersartig erschien.
    Die wenigsten Exilanten waren vor ihrer Flucht über die europäischen Grenzen hinaus gereist. Selbst jene, die zuvor im Ausland gewesen waren oder sich intellektuell von Deutschland distanziert hatten, mussten feststellen, welchen gravierenden Einfluss der Verlust der Heimat auf das eigene Empfinden haben konnte. Der nach Brasilien geflohene Schriftsteller Stefan Zweig (geboren 1881 in Wien, gestorben 1942 in Pétropolis bei Rio de Janeiro) gestand ein, dass „seit dem Tage, da ich mit eigentlich fremden Papieren oder Pässen leben musste, ich mich nie mehr ganz als mit mir zusammengehörig empfand. Etwas von der natürlichen Identität mit meinem ursprünglichen und eigentlichen Ich blieb für immer zerstört. [...] Es hat mir nicht geholfen, dass ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines ‚citoyen du monde’ zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit 58 Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“ 3 Dieses Gefühl der Entwurzelung teilten viele Exilanten. Bei Zweig kamen die Verzweiflung über Europas Entwicklung und persönliche Probleme hinzu; zusammen mit seiner Frau beging er im Februar 1942 Selbstmord.
    |44| Stefan Zweig
    Stefan Zweig, der aus einer österreichischen Industriellenfamilie stammte, studierte in Wien Romanistik und Germanistik und begann früh zu schreiben, stark beeinflusst von Hugo von Hofmannsthal. Der Erste Weltkrieg machte den weitgereisten Zweig zum Pazifisten. Er veröffentlichte zahlreiche Novellen, bis er, als nomineller Jude, 1934 ins Londoner Exil ging. 1940 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an und übersiedelte im selben Jahr nach Brasilien. Dort entstand seine berühmte Schachnovelle, die sich als Plädoyer für einen bürgerlichen Humanismus lesen lässt. Allerdings verstand sich Zweig als ganz und gar „unpolitischer“ Schriftsteller.
     
    In einer neuen Welt –
    Eingewöhnung und Integration
     
    Die Frage, inwieweit sich die Exilanten in die Gastgesellschaft integrieren konnten oder wollten, lässt sich nicht übergreifend beantworten; dazu waren die Erfahrungen und Bedingungen zu unterschiedlich. Grundsätzlich waren einige Exilanten offener als andere für die neue Kultur, einige geschickter, pragmatischer oder neugieriger als andere. In der Erinnerung des Politikwissenschaftlers Ossip K. Flechtheim (ge boren 1909 in Nikolajew, Ukraine, gestorben 1998 in Berlin), der nach seiner Flucht in die USA eine Stelle an der Atlanta University erhielt, dominierte die positive Wahrnehmung: Er bezeichnete seine Zeit

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