Reise ohne Wiederkehr
einführten, konnten die Blumenthals schließlich Shanghai verlassen. 14
Prüfungen
Jene Exilanten, die hoch qualifiziert waren, hatten zum Teil bessere Aussichten, Stellen zu finden, die jenen ähnelten, die sie zu Hause gehabt |55| hatten, aber auch hier gab es viele Fälle des professionellen Abstiegs. Im Exil gefragt waren praktische Fähigkeiten, die vielen Akademikern fehlten. Vor allem zionistische Organisationen bemühten sich deshalb darum, Flüchtlingen handwerkliche Kenntnisse zu vermitteln, damit sie ihre Chancen auf Visa verbesserten und im Exil ein Auskommen fänden. Dies war auch deshalb nötig, weil Berufsabschlüsse und Zeugnisse oft nicht anerkannt wurden. Ärzte und Rechtsanwälte konnten trotz jahrelanger Erfahrung und beruflicher Erfolge nicht weiter praktizieren, weil ihre Ausbildung nicht den staatlichen Regelungen der Asylländer entsprach. Die bereits erwähnte Berliner Ärztin Hertha Nathorff steht exemplarisch für diese Erfahrung, die zugleich in vielem ein weibliches Schicksal war.
In New York nahm Hertha Nathorff eine Stelle als Haushälterin und Pflegerin an, um es ihrem Mann zu ermöglichen, die amerikanischen Medizinalexamina zu machen, damit er als Arzt zugelassen würde. Nebenher hielt sie im New World Club, einem Selbsthilfeverein jüdischer Emigranten, Kurse in Kranken- und Kinderpflege ab und organisierte Kulturveranstaltungen. Ihr Mann eröffnete eine Praxis, in der sie als Assistentin mitarbeitete, aber die finanziellen Verhältnisse blieben schwierig, sodass sie weiterhin Gelegenheitsjobs annehmen |56| musste. Um selbstständig praktizieren zu können, wollte sie ebenfalls die amerikanischen Examina machen und studierte heimlich nebenher; eines Tages brach sie jedoch vor Erschöpfung zusammen, woraufhin ihr Mann ihr verbot, das Studium fortzusetzen. 1944 machte sie noch einmal einen Versuch, ihre Karriere wiederaufzunehmen: Sie bat eine jüdische Stiftung um finanzielle Unterstützung, um die nötigen Auffrischungskurse belegen zu können, doch ihr Antrag wurde abgewiesen. An vielen Krankenhäusern in den USA waren weibliche Ärztinnen nicht gern gesehen, weil sie angeblich den Männern die Stellen wegnahmen. So konzentrierte sich Hertha Nathorff darauf, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu schreiben, die sich mit der Situation der Exilanten beschäftigten. Außerdem verfasste sie eine Kolumne zu medizinischen und psychologischen Themen und moderierte ein ähnliches deutschsprachiges Radioprogramm. Auf diesem Gebiet war sie sehr erfolgreich und gelangte zu großer Bekanntheit. 1954 starb ihr Mann unerwartet. Um für sich und ihren Sohn aufzukommen, musste Hertha Nathorff nun wieder voll verdienen. Also übernahm sie Aufträge des berühmten Adler-Instituts für Psychotherapie, nachdem sie für dieses Feld eine amerikanische Zulassung erworben hatte. Nebenher publizierte sie Gedichte und Essays.
Hertha Nathorff
Hertha Nathorff (geboren 1895 in Laupheim, gestorben 1993 in New York City), eine Nichte Albert Einsteins, machte eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Karriere. Sie legte das Abitur an einem humanistischen Gymnasium ab, studierte Medizin und wurde schließlich Leiterin der Frauen- und Kinderklinik am Berliner Rot-Kreuz-Krankenhaus; außerdem übernahm sie führende Funktionen in Ärztevereinen. Sie heiratete Erich Nathorff (geboren 1889 in Berlin, gestorben 1954 in New York City), einen Oberarzt; das Ehepaar – beide waren jüdisch – verkörperte beruflichen Erfolg und moderne Bürgerlichkeit. 1933 dachte Hertha Nathorff erstmals daran, Deutschland zu verlassen, doch ihr Mann wollte abwarten. Erst 1940 gelangte die Familie in die USA.
Hertha Nathorffs Lebenslauf macht deutlich, wie kräftezehrend der Neuanfang im Exil sein konnte. Der Anteil der Frauen an der Emigration von Medizinern betrug zwölf Prozent, doch nur etwa ein Drittel von ihnen konnte im Exil in ihrem alten Beruf weiterarbeiten. Die Psychotherapie bot hier bessere Chancen, weil sie zu jener Zeit noch weniger etabliert war. 15 Zugleich ist Hertha Nathorffs Geschichte ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie viel Flexibilität Frauen bewiesen, die für ihre Familien sorgten, während es ihnen gleichzeitig gelang, eigene Nischen zu erobern und soziale und berufliche Anerkennung zu erlangen. Voraussetzung dafür war, dass sie die neue Sprache ausreichend beherrschten, Tätigkeiten annahmen, für die sie überqualifiziert waren oder, im Fall vieler bürgerlicher Frauen, überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher