Reise ohne Wiederkehr
Dienst des NS-Regimes stellt und auf eine neuerliche Position in der Zeit nach dem absehbaren Ende |82| des Nationalsozialismus hofft; ein Leipziger Student, der – in Anlehnung an Hans Scholl und die Weiße Rose – nach seinen Erfahrungen an der Ostfront gegen das NS-Regime protestiert hat, dessen Schwester ermordet wurde und der sich nun auf der Flucht vor der Gestapo befindet; eine berühmte Schauspielerin mit engen Beziehungen zur politischen Führung, die sich – ähnlich wie Leni Riefenstahl – aus „klei nen Verhältnissen“ hochgearbeitet hat und sich allein für ihren beruflichen Erfolg und ihre Privilegien interessiert, bis sie zufällig den flüchtigen Studenten trifft, sich in ihn verliebt und zum Widerstand übertritt; ein Hotelpage, der nach seiner Enttäuschung über die Hitlerjugend einer alternativen Jugendgruppe (angelehnt an die Edelweißpiraten) beigetreten ist, dafür verhaftet wurde und nun mit seinem Vater, der zum kommunistischen Untergrund gehört und sich als Blockwart und SA-Mitglied tarnt, den Studenten verstecken will; ein britischer Schriftsteller, der von den Nationalsozialisten als Geisel festgehalten und gezwungen wird, NS-Propagandasendungen zu sprechen, die nach England ausgestrahlt werden; ein deutscher Dichter, der – ähnlich wie Gerhart Hauptmann – als quasi-offizieller Poet des „Dritten Reiches“ gilt, aber um seine Abhängigkeit vom Regime weiß; ein berühmter junger Flieger, der die technikfixierte Verblendung der Luftwaffe repräsentiert; und eine jüdische Frau, die versucht, Medikamente für ihren schwerkranken Mann zu besorgen, um es ihm zu ermöglichen, sich das Leben zu nehmen, weil er in der Illegalität keine Aussicht auf Behandlung hat. Auf dem dramatischen Höhepunkt des Romans kommen all diese Menschen, deren Lebensgeschichten sich zum Teil überschneiden, während eines Bombenangriffs auf Berlin im Luftschutzkeller des Hotels zusammen.
Mit ihrer Beschreibung der verschiedenen Personen, ihrer Hintergründe und politischen Positionen wollte Vicki Baum einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der nationalsozialistischen Gesellschaft vermitteln. Ihr Buch sollte zeigen, dass sich das Leben in Hitler-Deutschland nicht eindeutig als „schwarz“ oder „weiß“ definieren lasse, sondern voller Ambivalenzen sei. Doch obwohl sich der Roman als Plädoyer für eine differenzierte Einschätzung individuellen Verhaltens |83| lesen lässt, fehlt es nicht an Kritik an der deutschen Gesellschaft und den Deutschen. Im Anschluss an die Szene, in der die Autorin den Bombenangriff auf Berlin beschreibt, klagt sie die Deutschen scharf an:
Selbstmitleid ist einer der vorherrschenden Züge des deutschen Charakters. Ihre Leidensfähigkeit wird von ihrem unkontrollierten Drang überwogen, sich selbst zu bemitleiden. Sie tragen den provinziellen, engstirnigen Glauben mit sich herum, dass Leiden, Schmerzen, Unglück und Mühsal etwas besonderes seien, woran nur die Deutschen litten, während der Rest der Welt nichts davon wisse. 39
Erst der Zweite Weltkrieg und die individuelle Erfahrung der Gewalt und Zerstörung habe sie dazu gebracht, zu verstehen, welch fatale Konsequenzen diese selbstmitleidige Ignoranz haben könne.
Es war die erste Lektion für ein unreifes Volk, das sich geweigert hatte, erwachsen zu werden und auf verträgliche Weise mit dem Rest der menschlichen Familie zu leben. 40
Vicki Baums Roman ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie es einigen exilierten Schriftstellerinnen gelang, die politischen Entwicklungen in Deutschland literarisch zu verarbeiten, sie dem Publikum des Gast- bzw. neuen Heimatlandes nahezubringen und ihre Karriere fortzusetzen. Allerdings war Vicki Baum keine „typische“ Exilantin. Sie war bereits 1931 aus beruflichen Gründen in die USA gereist, also nicht erst unter politischem Druck geflohen. Die amerikanische Lebens- und Arbeitsatmosphäre gefiel der Schriftstellerin so gut, dass sie beschloss, mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten zu gehen und ihre beiden Söhne, Wolfgang und Peter, im amerikanischen Sinne zu erziehen. Ihr Mann, Richard Lert, war ein in Deutschland anerkannter Dirigent, Händel- und Beethoven-Spezialist. Er hatte zuletzt in Mannheim und an der Lindenoper in Berlin, also an berühmten Häusern gearbeitet, doch ein Star wie seine Frau war er nicht. Vicki Baum |84| hatte beruflich weit mehr Erfolg als er, bestritt das Familieneinkommen, unternahm immer wieder monatelange Reisen durch die Welt und
Weitere Kostenlose Bücher