Reise ohne Wiederkehr
Wirtschaftswissenschaftler, die im amerikanischen Exil zu angesehenen Experten wurden und die US-Regierung im Sinne progressiver Konjunktur- und Wachstumstheorien berieten. Karl Loewenstein, Franz Neumann, Ernst Fraenkel und Sigmund Neumann wirkten als Politikwissenschaftler daran mit, das theoretische Fundament der amerikanischen
political science
zu stärken. Zugleich forderte das Exil in den Vereinigten Staaten sie heraus, „ihr theorielastiges Denken zu
entteutonisieren
“, sich also stärker mit empirischen Ansätzen vertraut zu machen, die in den USA prominent waren. 31
Die New School for Social Research
Die New School wurde 1919 als eine Art linksliberale Volkshochschule in New York City gegründet. 1934 kam die Graduate Faculty of Political and Social Sciences hinzu – die New School for Social Research. Der Präsident der Universität, Alvin Johnson (geboren 1874 in Homer, Nebraska, gestorben 1971 in Upper Nyack, New York), gründete 1933 die University in Exile, um bedrohten Wissenschaftlern aus Europa Zuflucht zu bieten und ihr Wissen an einer Stelle zu vereinen. Mit finanzieller Unterstützung von Privatleuten und der Rockefeller Foundation machte er die University in Exile zu einem Sammelbecken der intellektuellen Emigration. Insgesamt waren in den frühen Vierzigerjahren 170 aus Europa geflohene Wissenschaftler an der New School tätig. Obwohl die Institution häufig als isolierte Hochburg europäischer Gelehrsamkeit kritisiert wurde, hatte die Arbeit ihrer Mitglieder grundlegenden Einfluss auf die amerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Universität mit Sitz in Manhattan existiert bis heute.
|76| „Ich nahm sie im Kopf mit über die Grenze“ – Sprache und Kultur
D er Verlust der früheren Heimat im Zuge des Exils bedeutete fast immer auch den Verlust der Mutter- als Alltagssprache. Am Sprachproblem scheiterten viele Exilierte in ihrem Bemühen, sich so weit wie möglich in die Gastgesellschaft zu integrieren und ihren Außenseiterstatus zu überwinden. Denn eine Kultur bleibt fremd, solange man die Sprache nicht versteht, auf der sie beruht. Ossip K. Flechtheim schrieb dazu:
Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich die englische Sprache wirklich beherrschen konnte, bis zum Schluss konnte ich auf Englisch nicht fluchen – und das ist sehr wichtig. 32
Außerdem bedeutete das Leben in einer fremden Sprache, dass den Flüchtlingen ihre eigene Andersartigkeit stets präsent war. Damit verbunden war vielfach eine tiefgreifende persönliche Verunsicherung, denn „[d]ie Trennung von der Sprache bedeutete die Aufgabe jenes Gutes, das die Flüchtlinge auch nach dem Verlust ihrer materiellen Existenz und sozialen Stabilität noch voll ihr Eigen nannten und beherrschten; mit dem sie sich mit sich selbst und ihrer Umwelt verständigen, sich verständlich machen konnten“. 33
Wie Erika Mann nahmen zwar viele ihr Selbstverständnis und ihre Ideen – auch eine Form von Sprache – im Kopf mit über die Grenze, aber es erwies sich manchmal als schwierig, diese Sprache im Exil am Leben zu erhalten.
|77| Sprachbarrieren
Zur Selbstwahrnehmung des Fremdseins trug bei, dass viele Exilanten aufgrund ihres Akzents stigmatisiert und manchmal diskriminiert wurden. Es empfehle sich, an öffentlichen Telefonzellen in englischer Sprache zu telefonieren, schrieb ein Exilant während des Krieges aus den USA, weil Deutsche damit rechnen müssten, als „Spione“ oder „Na zis “ beschimpft zu werden. Aufgrund solcher Erfahrungen die eigene Muttersprache aufzugeben, war für die meisten allerdings keine Option. Stattdessen versuchten sie, zu Hause die eigene und in der Öffentlichkeit die neue Sprache zu sprechen. Über die Jahre verlernten einige ihre Muttersprache; dies war vor allem bei Kindern der Fall. Sie empfanden das Sprachproblem als weniger gravierend, da sie sich häufig schneller neue Sprachkenntnisse aneignen konnten und sich insgesamt leichter taten, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Die Erfahrung von Madeleine Kuczynski (geboren 1932 in Berlin), der Tochter des kommunistischen Wirtschaftswissenschaftlers, Statistikers und Philosophen Jürgen Kuczynski (geboren 1904 in Elberfeld, gestorben 1997 in Berlin), der mit seiner Familie nach England geflohen war und später in die DDR zurückkehrte, ist ein Beispiel dafür. Madeleine wuchs in Großbritannien auf und fühlte sich in der englischen Kultur und Sprache zu Hause; Deutsch zu sprechen war für sie eine
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