Reise ohne Wiederkehr
Zwecke ist es besser“. Die englische Sprache sei schlichter und zwinge dazu, sich verständlich auszudrücken, anstatt lange, komplizierte Sätze zu bauen, wie es im Deutschen üblich sei. Neurath war Mitglied des sogenannten Wiener Kreises, der sich in den Zwanzigerjahren zusammengefunden hatte, um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse mithilfe der formalen Logik zur Grundlage einer empirisch begründeten Weltanschauung zu machen. Dazu sollte eine wissenschaftliche Einheitssprache entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dass Neurath um eine verständliche Ausdrucksweise bemüht war; die Umstellung auf das Englische, die sich aus der Exilsituation ergab, kam ihm sehr entgegen. 42 Ähnlich meinte Karl Löwith, ihm sei erst im amerikanischen Exil aufgefallen, „dass viele berühmte deutsche Bücher sehr schlecht geschrieben und gedacht sind“. 43 So konnte die Exilerfahrung auch dazu führen, dass man die eigene Sprache – das vermeintlich Selbstverständliche schlechthin – zu hinterfragen und damit auch das eigene Denken aus einer neuen Perspektive zu reflektieren begann.
Sprache und Identität
Eng mit der Sprache verknüpft war die nationalkulturelle Identität, die durch das Exil herausgefordert wurde. Die Sprachnation war gespalten in „uns Deutsche“ und „die anderen Deutschen“, die in Deutschland geblieben waren und die nationalsozialistische Politik direkt oder indirekt, aktiv oder passiv unterstützten und mittrugen. Für viele Flüchtlinge ergab sich daraus der Anspruch, das „wahre“ Deutschland im Exil am Leben zu erhalten. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger sagte dazu:
|88| Man glaubte, dass jene, die aus ihrem Heimatland vertrieben worden waren, auserwählt seien, die Barbaren, die davon Besitz ergriffen hatten, zu vertreiben. 44
Sehr deutlich wird dieses Selbstverständnis auch in einem Brief Thomas Manns an den Rektor der Universität Bonn. Mann war 1936 die ihm 1919 verliehene Ehrendoktorwürde aberkannt worden. Darauf erwiderte er:
Der einfache Gedanke daran, wer die Menschen sind, denen die erbärmlich-äußerliche Zufallsmacht gegeben ist, mir mein Deutschtum abzusprechen, reicht hin, diesen Akt in seiner ganzen Lächerlichkeit erscheinen zu lassen. Das Reich, Deutschland soll ich beschimpft haben, indem ich mich gegen sie bekannte! Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! 45
Seine Identität ließ sich Mann nicht von den Nationalsozialisten definieren. „Solange ich lebe aber, und selbst als Bürger der neuen Welt, werde ich ein Deutscher sein“, sagte er 1940, und dieses Deutschsein definierte sich ganz wesentlich über den künstlerischen Umgang mit der deutschen Sprache. 46
|89| Widerstand aus der Ferne – Politisches Engagement
I m Sinne der Verantwortung für das „wahre“ Deutschland bemühten sich viele, vor allem politische Flüchtlinge darum, vom Exil aus den Widerstand gegen die Nationalsozialisten fortzusetzen, den Sturz des Regimes zu beschleunigen und anderen Verfolgten zu helfen. Dazu sammelten und überwiesen sie Geld, vermittelten Kontakte, Informationen und Empfehlungsschreiben und stellten Bürgschaften
( affidavits
) aus, die nötig waren, um ein Visum zu erhalten. Prominente Namen waren hier sehr nützlich. Katia und Thomas Mann, Albert Einstein, Carl Zuckmayer (geboren 1896 in Nackenheim, gestorben 1977 in Visp, Schweiz) und viele andere vergaben nach ihrer Ankunft in den USA Bürgschaften an Bekannte, schrieben amerikanischen Behörden und versuchten ihren Einfluss geltend zu machen, um die Visagewährung zu beschleunigen. Stefan Zweig etwa bat den brasilianischen Außenminister persönlich um Hilfe und spendete die Einnahmen von Lesungen an Hilfsorganisationen für Exilanten.
Parallel zu dieser konkreten Hilfe für Freunde, Bekannte und Unbekannte engagierten sich viele intellektuelle Exilanten in kulturellen Organisationen und politischen Vereinigungen. Dabei mussten sie sich nicht selten gegen die Vereinnahmung von Anhängern des Nationalsozialismus wehren. In fast allen Exilländern gab es NS-nahe Gruppen und Organisationen, die das „Deutschtum im Ausland“ zu stärken suchten und prodeutsche Propaganda betrieben. Um gegen diese Positionen anzugehen, der internationalen Öffentlichkeit ein besseres |90| Bild von der deutschen Situation zu vermitteln und sie um Unterstützung zu bitten, verfassten Exilanten Zeitungsartikel und Flugschriften, veranstalteten
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