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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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war. Mein Vater kam, als er noch keine vierzig war, zur Tür hereingestürmt und rief meiner Mutter und mir zu: »In drei Monaten bin ich tot, sagt Blacky, wenn ich nicht mit dem Rauchen aufhöre!« Er sah entsetzt zu uns hin und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. – Blacky war sein Arzt, ein Dr.   Schwarz, glaube ich. [War er der Einbrecher von früher?] – Auch eine Cousine von mir, Monika, stürzte tot zu Boden, kaum zwanzig Jahre alt. Eine Generation später mein Neffe, Dimitri, beim Tennisspielen. Ich wurde an der Herzklappe operiert, an der Professor Nissen fünfzig Jahre zuvor bei Elsi gescheitert war. Dank den Fortschritten der Medizin bin ich am Leben geblieben.) – Zum Taufessen bei Norina (und Erwin, der aber nicht teilnahm) kamen so viele Gäste, dass unser Esstisch nicht ausgereicht hätte. Das Erinnerungsfoto zeigt sogar zwei junge Frauen, Mädchen beinah noch, die Häubchen, schwarze Röcke und Blusen und weiße Schürzchen trugen. Personal! Es kamen, alle festlich gekleidet, Großmami, Großpapi, Onkel Otto, Tante Annemarie, Tante Elsi, Tante Nettel, Tante Marthi (sie wurde die erste Tote, deren Namen ich kannte), Onkel Robi. Meine Patentante Hildegard (»Gotte«) saß neben meinem Paten (»Götti«), der entweder Ueli oder Hans hieß, Senn auf jeden Fall, und den ich nach der Taufe nie mehr sah. Er zerstritt sich noch vor dem Nachtisch mit meinem Vater – mehrere Grappas inzwischen, am hellen Nachmittag –, der ihn einen blöden Frömmler nannte. Götti Ueli oder Hans versteinerte, stand auf, faltete die Serviette, legte sie neben seinen Teller und ging. Gott sei Dank hatte die Großmutter nicht mitbekommen, weshalb er so unvermutet aufbrach. (Ich sah ihn dann doch noch einmal. Sechzehn Jahre später nämlich, am Tag meiner Konfirmation und wenige Tage vor meinem Austritt aus der Kirche, klingelte es. Ein fremder Mann stand vor mir und sagte: »Ich bin dein Götti.« Er überreichte mir ein Paket und hastete davon, bevor ich »Kommen Sie doch herein, Herr Götti« sagen konnte. In dem Paket war eine Bibel, die mir heute noch nützlich ist.)
    NORINA immer noch. Wir taten alles zusammen. Wir rüsteten Gemüse (ich wusch die Karotten, die sie danach nochmals wusch), wir kochten (ich konnte bald die Karotten ins heiße Wasser werfen), wir deckten den Tisch. Sie sagte: »Noch zwei Gabeln«, und ich holte zwei Gabeln aus der Schublade. Ich strahlte vor Stolz. Wir hängten die Wäsche auf, an einer Art Karussell aus Stangen und Seilen, das Norina drehen konnte, bis die Hemden flatterten wie an ihren Kragen aufgehängte Männer. Wir kletterten auf den Komposthaufen und hockten zwischen Riesenzucchini. Wir sammelten unter dem Nussbaum, einem wahren Baumriesen, die Nüsse ein. Wenn wir Verstecken spielten, kauerte Norina so hinter der Wassertonne, dass ich ihr rotes Kopftuch von weitem leuchten sah und triumphierend zu ihr hinrennen konnte. »Eins, zwei, drei für Norina!« Ich hockte dann mit geschlossenen Augen neben dem Schuppen und hielt mich, weil ich nichts sah, für unsichtbar. Norina strich zwischen den Bohnen herum und rief: »Wo ist er denn, wo steckt er denn nur?« Die Begeisterung, gefunden zu werden! Wir gingen Hand in Hand durch den nahen Wald, in Millionen Anemonen, die weiß in einem grünen Blätterteppich blühten. Ich war überwältigt von so viel Schönheit.
    KANN sein, dass meine andere Hand in der Simones lag. Simone nämlich wohnte plötzlich auch bei uns. Ich liebte sie bald so sehr wie Norina. Sie war fast noch ein Mädchen, ein großes Mädchen und ein bisschen dick, rondelette. Sie hatte zündrote Haare und Sommersprossen. Sie sprach französisch, nur französisch, mit einer hellen, lustigen Stimme. Ich verstand sie auf Anhieb, und sie verstand mich. Sie war von ihren Eltern, die im Welschland lebten, in die deutsche Schweiz verschickt worden, manger de la vache enragée. Bei uns kriegte sie aber normales Essen. Wenn meine Mutter mit andern Leuten von Simone sprach, nannte sie sie »unser Dienstmädchen«. Sie kriegte irgend so was wie eins fünfzig am Tag und Kost und Logis. Dafür brachte sie, wenn sie einmal für einen Sonntag nach Hause fuhr, Körbe voll Eier und hie und da einen Schinken mit, denn sie kam von einem Bauernhof mit echten Kühen und Schweinen. Sie wälzte sich mit mir im Gras. Ich lachte. Sie kreischte und ließ mich in ihren hocherhobenen Händen zappeln. Ich lag auf ihr, die Nase zwischen ihren Brüsten, die Nase überall. Sie roch

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