Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Wenn so etwas möglich war, konnte jeder von einem Augenblick auf den andern aus meinem Leben verschwinden. Mama, Papa, Simone, Astor. Auch Nora. (Und ich irrte mich nicht. So kam es.) – Als ich am nächsten oder übernächsten Tag doch wieder in den ersten Stock hochtappte, sah Erwin so vernichtend auf mich herab, dass ich nie mehr versuchte, die alten Wege zu gehen. Erst jetzt begann ich Carino zu fürchten, dessen Toben hinter den Zwingergittern ich bislang nicht auf mich bezogen hatte. Er war imstande, mich zu zerfleischen, wie Erwin. Aus dem obern Stock hielt nur noch Astor zu mir. – Als Nächste verschwand Simone. Ich kann mich nicht an ihren Abschied erinnern. Vielleicht schlich sie sich eines Nachts weg. Jedenfalls war sie plötzlich nicht mehr da. – Dann kam mein Vater nicht mehr nach Hause. (Nun war er tatsächlich im Militärdienst und bewachte im Kessiloch eine verminte Brücke, von der sein Kommandant nach der Demobilisation grinsend sagte, sie sei gar nicht geladen gewesen. »Aber irgendwie musste ich euch Rindviecher ja beschäftigen.« Mein Vater war stinkwütend.) – Dann war sogar Nora nicht mehr da. Hatte das Spital sie nun doch zurückgenommen? – Vor allem aber war, allmählich oder auf einen Schlag, meine Mutter eine andere geworden. Eine ganz andere. Sie weinte nun den halben Tag, und wenn sie nicht weinte, presste sie die Lippen so aufeinander, dass ihr Kinn zitterte. Ihr Gesicht war starr, die ganze Mama wurde ein Granit. Steif, nicht weich, wenn ich auf ihren Schoß klettern wollte. Sie merkte es nicht oder stellte mich auf den Boden zurück. Als einmal das Telefon klingelte, neben dem sie auf einem Stuhl saß, erschrak sie so, dass sie zu Boden stürzte. Sie schaute mich aus entsetzten Augen an. Sie hörte mich nicht, nichts, ich konnte rufen, was ich wollte. Oder aber, sie redete, redete nicht enden wollend, dass dies so und das andere so sein müsse, jetzt und unbedingt. Ein herumliegender Schuh war das Vorzeichen der untergehenden Welt oder der Untergang selbst. Siehst du nicht, rief sie, dass ich aus dem Leim gehe und du auch und alles? Wie soll ich das alles, wie soll ich? Ich kann nicht mehr, ja, das war ihr Hauptsatz: dass sie nicht mehr könne. Er war durchaus eine Formel, nach der es dann doch noch weiterging. Aber einmal war es dann doch das letzte Mal, und auch meine Mutter verschwand. (Ich habe ihren Aufbruch oft erfunden, denn ich kann mich an ihn nicht erinnern. Das heißt, ich vermische ihn mit einem Abend, an dem ich, sagen wir, den Grünkohl nicht fertigessen wollte oder die Zähne nicht putzen, und meine Mama jäh nicht mehr konnte und hochsprang und rief, sie gehe jetzt, ja, endgültig. Sie stürmte, ohne einen Mantel mitzunehmen oder die warmen Schuhe anzuziehen, zur Tür hinaus. Ich hinter ihr drein. Als ich bei der Tür war – schwarze Nacht draußen –, sah ich nur noch ihre Tappen im Schnee des Gartenwegs und weit vorn, von einer blassen Straßenlampe erhellt, das offene Gittertürchen. Ich stand versteinert, vereist wie alles um mich herum. Die Mutter kam dann wieder, vermutlich. Ohne Mantel und in Pantoffeln konnte sie nicht allzu lange in der Winternacht gewesen sein.)
VON einer Minute auf die andere war ich allein. Es war totenstill im Haus. Nicht einmal Astor bellte im ersten Stock, oder Carino in seinem Zwinger. Ich saß auf dem Boden, schob mein Feuerwehrauto hin und her und wartete darauf, dass jemand kam. Es kam jemand, nach einer Ewigkeit oder einer Viertelstunde. Lotti und Heiri Strub rumpelten mit Sack und Pack und einer Katze zur Tür herein. »Keine Sorge! Wir sind jetzt da!« Die Katze ging sofort durch die Wohnung, als wohne sie hier seit immer. Lotti und Heiri waren Freunde meiner Eltern und ein bisschen auch von mir, denn zumindest Heiri war oft bei uns gewesen und hatte auch schon Hoppe hoppe Reiter mit mir gespielt. Beide können damals (sie leben noch) kaum viel älter als zwanzig gewesen sein. Für mich waren sie natürlich Große. Sie waren herzliche Menschen, aber sie waren weder die Mutter noch der Vater noch Norina noch Simone. Nora schon gar nicht. Ich musste Lotti erklären, wo meine Pantoffeln waren und dass der Kakao in diese Tasse gehörte und nicht in irgendeine. Nicht umgekehrt. Die beiden zogen in Papa und Mamas Zimmer ein und schliefen in ihrem Bett. Lotti kochte ein Essen, das gänzlich ungewohnt schmeckte. Milchreis oder Blumenkohl an einer weißen Sauce. Älplermakronen. Es gab neue Regeln. Manches bisher Verbotene
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