Reise zum Rand des Universums (German Edition)
in eine neue Richtung, über eine Kreuzung. Ich wählte diese Abzweigung und dann jene, dahin, dorthin und wusste bald nicht mehr, wie wieder hinaus. Rings um mich die Kornhalme, überlebensgroß, und weit oben der Himmel. Nun stolperte ich angstvoll, panisch bald. Ich rief nicht, denn ich wollte keines der Ungeheuer anlocken, die gewiss auch durch die Korridore strichen. Wenn mir jäh ein Menschenfresser entgegenkäme? Ich war längst in Tränen aufgelöst, als ich unvermutet auf den Fußweg hinauspurzelte. Ich stand am andern Ende des Kornfelds. Fern meine Mutter, die mit einer Nachbarin plauderte. »Ich rede mit Frau Schaub«, sagte sie, als ich schluchzend bei ihr anlangte. »Das ist doch kein Grund zum Weinen.« – Und einmal der Maler Paul Camenisch, wie er mich hochwarf, noch einmal hochwarf, wieder hochwarf. Ich flog, wurde gefangen, flog wieder. Ich juchzte. Die Lust war größer als die Angst, oder umgekehrt.
DANN kam meine Schwester zur Welt. Nora. Ich hatte nicht gesehen, nie, dass meine Mutter einen immer dickeren Bauch bekommen hatte (falls ich es doch sah, deutete ich es falsch), und als ich gefragt wurde, ob ich mir nicht ein kleines Schwesterchen wünschte, antwortete ich, dass mir ein Fahrrad lieber wäre. Noch heute habe ich die Neigung, die Schwangerschaften von Frauen zu übersehen. Vor Jahren, als mein Patenkind Babette zur Welt kam, hatte ich bis unmittelbar vor der Geburt den Bauch Evas ignoriert. Dabei ging Eva längst nicht mehr, sie rollte. – Nora also. Sie verdankte ihren Namen (die große Norina) ihrer neuen Tante. Auch weil ich Norina liebte wie niemanden sonst, wollte ich nicht, dass es eine Variante von ihr gab. Ich machte klar, dass ich dieses kleine Wesen nie mit dem Namen Nora ansprechen würde. Nie. Margherita, ja, wenn sie jetzt schon einmal da war und man sie tatsächlich nicht im Spital zurückgeben konnte, dann also Margherita. Ich brüllte, ich tobte. Margherita, oder gar nichts. – Ich sang damals gern ein Lied, das »Margherita, bella Margherita« hieß. Margherita, bella Margherita, minem Hüsli grade vis-à-via, sing i dir es kleines Schtändeli, jo? Chumm e bitzeli abe, oder soll i uffe cho? – (Es gab, im Juli 1942, noch keine Gastarbeiter aus Italien in der Schweiz. Oder, genauer, der Vater meiner Mutter war um die Jahrhundertwende herum einer gewesen und war, bei allem Bestreben, Einlass in die Basler bürgerliche Gesellschaft zu finden, auf seine italianità stolz geblieben.) – Mein Vater ging am selben Tag noch zum Zivilstandsamt und ließ den zweiten Namen auch ins Geburtenregister eintragen. Nora hieß nun Nora Margherita. Niemand hat dann je Margherita zu ihr gesagt, meine Mutter nicht, mein Vater nicht, Nora selber schon gar nicht. Ich auch nie.
MEHR Leben im Haus als vorher also, ein Leben mehr. Aber es kam anders. Kaum war die neue Nora da, leerte sich das Haus. Alle Frauen im Haus verschwanden, eine nach der andern. War Nora schuld daran? Als Erste ging Norina. Ich hatte nichts von ihrem Ehekrieg mit Erwin bemerkt, oder falls doch – Norina hatte ein hartes Gesicht, Erwin knallte Türen zu –, hatte ich ihn mit dem Genie der Kinder, über Verstörendes hinwegzusehen, ignoriert. Den letzten Streit zu übersehen, gelang mir allerdings nicht. Ich spielte mit Astor im Garten – Am-Schwanz-Reißen oder so was –, als unvermutet aus dem Esszimmerfenster im oberen Stockwerk Teller, Gläser, Servietten und auch ein halbes gebratenes Huhn geflogen kamen. (Erwin hatte zu Norina gesagt, dass das Huhn versalzen oder zu wenig gesalzen sei, und das war der Tropfen, der ihr Fass zum Überlaufen brachte. Sie warf wortlos alles aus dem Fenster, was auf dem Tisch stand: die Gabeln, die Messer, die Teller, das Salzfass, das Huhn und auch eine Schüssel mit Erbsen.) Ich, unten im Gras, sah ratlos nach oben. Astor, der die vom Himmel fliegenden Gedecke für eins der Spiele Erwins hielt, versuchte, das Huhn im Flug zu erhaschen. Das gelang ihm zwar nicht, aber er kaute dann doch zufrieden an einer Keule herum. – Norina stürzte keine Minute später den Plattenweg entlang und rannte mitten auf der Straße davon. Sie trug einen hellen Regenmantel, dessen Schöße hinter ihr drein wehten. Der Horizont – die Straße fiel keine hundert Meter weiter vorn steil gegen die Stadt ab – verschluckte sie. Als Letztes sah ich ihre fliegenden Haare. – Sie kam nie mehr zurück. Ich weiß nicht, wie schlimm das für Erwin war. Ich jedenfalls war aus den Fugen. Norina war weg.
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