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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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einbrechergleich über den Rasen zu huschen. Ich stand auf der Terrasse unseres Hochparterres, auf die er zustrebte. Astor sah ihm dabei neugierig zu, aber Carino fegte sofort rasend vor Mordgier zu ihm hin und verbiss sich im gepolsterten Arm, den ihm Herr Schwarz in seiner Not entgegenreckte. Die beiden drehten sich im Kreis, in einem irren Tanz, Carino auf den Hinterbeinen springend und durch die Zähne heulend, Herr Schwarz »Erwin! Hol das Vieh weg!« brüllend. Erwin rief ein ums andre Mal »Carino! Fuß!«, ohne jede Wirkung. Astor hockte im Gras und wedelte mit dem Schwanz. Ich hatte den Mund offen vor Schreck. Herrn Schwarz gelang es schließlich, sich über den Zaun zu retten. In Carinos Geifermaul verblieben Teile des Matratzenpolsters und wohl auch des Hosenbodens von Herrn Schwarz. Erwin tätschelte seinen klugen Wachhund. »Brav, Carino, brav.« Carino schaute dankbar zu ihm hoch. – Manche Jahre später saß ich in den Zweigen des Baums mit den japanischen Zieräpfeln (eine tolle Konfitüre), als ein Auto näher kam und direkt unter mir hielt. Ein MG , ein schwarzes Cabrio mit Speichenrädern. (Es gab nun wieder Autos. Erwin hatte seines auch ausgemottet.) Mit einem lockeren Tanzschritt entstieg ihm Herr Schwarz, den ich nicht wiedererkannte, sehr wohl aber Carino, der in seinem fernen Zwinger aufheulte, obwohl er von dort aus Herrn Schwarz gar nicht sehen konnte. Allenfalls ahnen oder riechen. Trotzdem tobte er so gegen die Gitter, dass er sie zu durchbrechen drohte. Er nahm Anlauf, warf sich gegen den Zaun, holte erneut aus und warf sich wieder. Die Delle in den Gittermaschen wurde immer größer, und die Haltestangen verbogen sich. Herr Schwarz, der seinerseits Carino nur hören konnte, stand mit einem in der Luft erhobenen Fuß. Er hörte, wie ich, das nun völlig hysterische Gebelle und das Krachen des Maschenzauns, machte rechtsumkehrt und fuhr so schnell davon, dass die Reifen quietschten. Er kam nie mehr zurück. Er hatte eigentlich in eine der Einzimmerwohnungen im obersten Stockwerk einziehen wollen. In dieser wohnte dann ein Herr Keller, der abends in einem dunkelroten Seidenmantel auf der Dachterrasse stand – mit einem Champagnerglas in der Hand und oft mit einer Dame – und den Carino nur maßvoll zu verbellen versuchte. Astor schloss ihn sofort in sein Herz und dehnte seine unablässigen Hausbesuche auch in den obersten Stock aus.
    ERWIN dann. Er war groß und hager und hatte ähnliche Augen wie Carino, nur dass dieser keine Brille trug. Er hatte am gleichen Tag wie ich Geburtstag (am 21.   Mai), obwohl er viele Jahre älter als ich war. Ein Rätsel. Trotzdem schuf das eine schicksalhafte Verbundenheit, die mich beunruhigte. Wenn mein Vater brüllte: »Der Erwin ist verrückt, der ist ganz einfach verrückt!«, dann konnte auch ich gemeint sein. Ihm gehörten das Haus und auch die Kindergefängnisse des Landes (er war Staatsanwalt beim Jugendgericht und wurde später der Verfasser eines renommierten Standardwerks des Jugendstrafrechts). Ich wusste, dass er auch mich einsperren konnte und das zuweilen sogar in Erwägung zog. Einmal zum Beispiel, als er mir nahelegte, nicht so laut die Treppe hinabzupoltern, und ich ihm die Zunge herausstreckte. Meine Mutter war demütig, wenn sie mit ihm sprach, und mein Vater machte Witze. – Sonst war Onkel Erwin der Besitzer des einzigen Autos der Straße (später kam, weit unten, ein Studebaker dazu, der aber nach wenigen Tagen gestohlen wurde), eines Wanderer der Auto-Union. Er war ein hellgrünes Cabrio mit dunkelgrünen Schutzblechen und braunen Ledersitzen. Mit Weißwandreifen. Er war das, was meine Mutter einen »bildschönen Wagen« nannte. Ich habe das abgeschabte Gummi des Gaspedals heute noch vor Augen. Fotografisch genau. Ja, eigentlich hat sich das ganze Auto auf diesen Gummifetzen über einem hell blinkenden Metall reduziert. Da saß ich neben Erwin und starrte auf seinen glücklichen Fuß, der, als sei das nichts, das Pedal niederdrückte und wieder losließ. Aufs Bremspedal wechselte, das anders geformt war. Einmal selber so ein Auto fahren dürfen! Einmal einer wie Onkel Erwin sein, die eine Hand locker am Lenkrad, die andere draußen im Fahrtwind! Der Blinker war eine orangerote Kelle, die links oder rechts aus der Karosserie fuhr, wenn Erwin einen Schalter in der Mitte des Armaturenbretts bediente. Einmal durfte ich das machen. »Links!«, sagte Onkel Erwin, und ich schob den Hebel auf eine Seite, aufs Geratewohl, denn ich wusste

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