Reise zum Rand des Universums (German Edition)
nicht, wo links und wo rechts war. Draußen, als ich mich auf meiner Seite aus dem Fenster beugte und nachschaute, war der Zeiger nur halbwegs aus seinem Schlitz gekommen und hing schräg nach unten. Erwin sagte: »Links. Das ist doch nicht links!«, und bog nach der andern Seite ab. – In Erwins Auto sitzend sah ich auch meinen ersten Toten. Erwin hatte mich zum Gärtner mitgenommen, und wir fuhren in Münchenstein auf die Brücke zu, die dort die Birs überquert. Es war Abend, ein Sommerabend. Ein blauer Himmel im letzten Licht, die Straßen schon verschattet. Der Tote lag mitten auf der Straße. Er war mit einem Leintuch zugedeckt. Eine Hand ragte unter dem Tuch hervor, die weißen Finger eines Mannes eher als einer Frau. Ein Auto hatte ihn überfahren, vor ein paar Minuten wohl schon, denn die Menschen standen starr und schwiegen. Das Täterauto stand schräg auf der Straße. Erwin fuhr im Schritttempo an dem Toten vorbei, halb auf dem Trottoir. Keiner sprach ein Wort, bis wir zu Hause waren. Ich rannte ins Haus, und Erwin lud seine Blumenkästen aus.
NORINA. Sie war die Frau Erwins und meine Tante, das ist gewiss, obwohl meine Mutter der Ansicht war, sie sei ihre Schwester. Ich fragte Norina: Tante, ganz klar. Ich mochte genauso wenig glauben, dass meine Großmutter (»Großmami«) die Mutter meines Vaters sein sollte. Entweder oder. Sie mussten sich entscheiden. Norina konnte ja nicht gut eine Schwester sein, wenn sie eine Tante war, und eine Großmutter war keine Mutter. Allein schon das Alter. Eine Mutter war jung, so wie meine, und nicht ein graues gebücktes Weiblein, das nach Mottenkugeln roch. – Norina war so oft mit mir wie meine Mutter. Wenn nicht öfter. Meine Mutter stand nicht gern früh auf, sie konnte das einfach nicht. Sie sagte es jeden Tag, wenn sie, obwohl dieser schon alt war, mit ungekämmten Haaren und im Nachthemd auftauchte. Norina kam, wenn ich auf den Beinen war. Um fünf, um sechs, um sieben. Ich weiß nicht, wie sie wusste, wann ich wach war. Sie war jedenfalls da. Zuerst wickelte und fütterte sie mich, später, als ich gehen konnte, tobten wir zusammen durchs Haus. Ich war jeden Tag in ihrem ersten Stock, der fremd und vertraut in einem war, denn die Küche war am gleichen Ort wie bei uns, und das Klo auch. Da, wo bei uns das Ess- und das Papi-Mami-Zimmer waren (das bald einmal »die Wärme« hieß), war bei ihr allerdings ein einziger Raum, ein Saal, in dem meine Taufe gefeiert wurde, denn ich wurde getauft nach allen Regeln der protestantischen Kirchenkunst, obwohl weder mein Vater noch meine Mutter Mitglieder einer Kirche waren. Dies, weil – da war mein Vater überzeugt – meine Großmutter einen jähen Herztod sterben würde (»Tschodder«, tödlich diesmal), wenn sie erführe, dass ihr Enkelkind ohne die Hilfe des Herrn aufwachsen müsste, und weil mein Onkel Otto, den mein Vater liebte und von dem er behauptete, er sei sein Bruder, ein Pfarrer war. Er war legitimiert, Haustaufen durchzuführen. Ich lag auf einem Kissen, glaube ich, in den Armen meiner Patentante (»Gotte«) gewiss, und wurde, vermute ich, vom Onkel nassgespritzt. Es war wie bei Gotthelf; Ottos Frau (»Tante Annemarie«) stammte ja aus dem Emmental. – Ein Tschodder war übrigens nicht tödlich. Er war eine Eigenheit meiner Großmutter, die dann weit über achtzig Jahre alt wurde und nicht an ihrem unruhigen Herzen starb. Ich habe unzählige Tschodders miterlebt. Alle sahen tödlich aus, keiner war es. Manchmal kamen sie einfach so, aus heiterem Himmel; aber oft wurden sie von meinem Vater ausgelöst. Durchaus ohne Absicht. Er stand grinsend in einer heiteren Familienrunde, die Großmutter irgendwo klein im Hintergrund, und gab eine Geschichte zum Besten, die wohl einigermaßen gottfern war, lustig auch, frech und lästerlich, und meine Großmutter griff sich plötzlich ans Herz, bekam einen ganz besonderen Blick – fragend in eine weite Ferne gerichtet – und flüsterte: »Ich glaube, ich kriege einen Tschodder.« Sofort war es aus mit der frechen, lästerlichen und gottfernen Geschichte des Vaters, und alle rannten hin und her, fächelten der Großmutter Luft zu und öffneten ihr die Blusenknöpfe. (Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass schwache Herzen in der Vater-Familie die Regel waren und sind. Tante Elsi starb in jungen Jahren unter dem Messer von Professor Nissen [»Sie hat nicht mehr leben wollen«, so meine Großmutter], auch Otto stürzte tot zu Boden, als er im besten Mannesalter
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