Reise zum Rand des Universums (German Edition)
wunderbar. Oft kam auch Norina, wälzte sich mit uns. Auch Astor tat mit, weil er bei jedem Menschenspiel wissen wollte, ob er es auch konnte. Er konnte mich nicht hochheben, das nicht. Er roch auch nicht gut. Aber das Sich-Wälzen schaffte er so gut wie alle. Zuweilen saß sogar meine Mutter bei uns, schaute uns zu, lächelte ernst. Sie hatte große Augen.
(GLÜCK. Wenn ich an diese erste Zeit denke, finde ich es in mir. Wie einen Schatz. So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück.)
ÜBRIGENS: Da ist eine Erinnerung, um die ich mich schon eine ganze Weile lang herumdrücke. Keine Erinnerung wirklich, ein Bild, ein Gefühl, eine Szene, erfunden vielleicht, eine Konstruktion. Wie ein Zehn-Sekunden-Film, den ein unbekannter Operateur zuweilen, ohne mich zu fragen, in mir abspielt. Sicher ist, dass ich diese Szene seit immer in mir trage und dass sie mich heute noch aufschreckt, wenn sie auftaucht. Gewiss ist auch, dass ich ihr Held bin, ihr Opfer, und dass ich klein bin. Ein Baby, zwei, drei Jahre alt, was weiß ich. Ich liege da, und etwas nähert sich mir, flammend. Ein brennendes Kissen, in einem grünen Licht, plötzlich und schrecklich und tödlich. Meine Mutter versucht, mich mit einem Kissen zu ersticken: das wäre meine Erklärung. Sie ist sicher falsch. Es kann nicht so gewesen sein, es war gewiss nicht so. Niemand hat mich erstickt, da war kein brennendes Kissen in der wirklichen Welt. Es brannte in meinem Hirn.
DIE paar andern Erinnerungen aus sehr frühen Jahren: Sprachen sie tatsächlich von Glück? Meine Mutter kauert auf allen vieren auf dem Bett, mit offenen Haaren, einer gewaltigen Mähne, die sie schüttelt. Sie knurrt, tappt mit den Pfoten nach mir und ruft, sie sei ein Löwe. »I bi-n-e Leu!« Ich, vor ihrem Rachen, rufe schnell, ich sei auch ein Löwe. »Und iich bi dr Kindli-Leu!« Tatsächlich: Die Mutter zerreißt mich nicht. – Ein Postbus kommt auf einer steilen Bergstraße näher und lässt sein Signalhorn erklingen. Drei Töne. Sie sind so verstimmt, dass ich bis heute den mittleren Ton im Kopf nachstimme – um eine Nuance nach unten –, wenn ich den klassischen Dreiklang höre, der inzwischen bei allen PTT -Bussen rein und korrekt ist. – Das waren schon Töne des Glücks. Andrerseits waren meine Mutter und ich nicht freiwillig unterwegs. Wir waren aus der Grenzstadt Basel ins Wallis geflohen, weil sich jedermann sicher war, dass die Wehrmacht in den nächsten Tagen in die Schweiz einmarschieren würde. Mein Vater wusste es, Erwin auch. Das war im Mai 1940. Im Bahnhof ein gehöriges Durcheinander. Rufen, Drängeln, Fluchen. Wir landeten nicht im Lötschental – vielleicht war sein Eingang noch voller Schnee –, sondern im Val d’Anniviers, in Grimentz, im Haus von Monsieur Roulet, der im Leben meiner Mutter eine wichtige Rolle gespielt hatte und offenbar immer noch spielte (»Monsieur Roulet hat gesagt«: ein häufiger Satz meiner Mutter) und dessen Sohn, glaube ich, einmal um die Hand meiner Mutter angehalten hatte. Oder war das Monsieur Roulet selber gewesen? – Der Bus war gelb, aber sein Gelb war dunkler und wärmer als das Postgelb heute. Eine verschwundene Farbe. – Mein Vater war in Basel geblieben. Er musste wohl Schule geben (die Kinder der Armen waren noch in Basel, so wie die Armen selber, und ihre Lehrer). Oder lernte er zu der Zeit schon als ein beinah vierzigjähriger Herzkranker in einer Rekrutenschule für hilfsdienstfähige Nachzügler, wie man mit einem Karabiner einen Panzer aufhält? – Die Deutschen kamen dann doch nicht, und Mama und ich fuhren nach Basel zurück. Ein letztes Mal, auf der Fahrt ins Tal hinunter, die drei herrlichen Töne, wenn der Bus in eine enge Kurve steuerte. In diesem Sommer wohl auch – denn ich war kleiner als eine Roggenähre – tappte ich mutig in die von viel größeren Kindern getretenen Labyrinthgänge eines Getreidefelds hinein. Ich ging neugierig, entzückt, um eine Kurve – der Eingang, der auch der Ausgang war, war nicht mehr zu sehen –, um eine andere dann, noch eine, eine weitere
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