Reise zum Rand des Universums (German Edition)
hätte bezahlen müssen. – Aus dem Restaurant Bruderholz wurde später, viel später, das Restaurant Stucki, ein hell leuchtendes Lokal mit drei Michelin-Sternen, in das eine Weile lang die Reichen und Schönen der Stadt Basel nur so strömten. Aber da gingen Nora und ich nicht mehr hin.) – Klar, dass wir am Tag mit dem auf dem Dach fahrenden Bell-Auto besonders spät im Kindergarten waren. Aber auch sonst kamen wir oft an, wenn die andern sich gerade von Fräulein Vögeli verabschiedeten. Mehrere Male trauten wir uns gar nicht mehr ins Schulhaus und lugten durch die Fenster in den Saal, in dem die Kinder Ringelreihen tanzten. – Einmal war ein wirklicher Winter (1944?), wie es ihn heute kaum noch in den Bergen gibt. Die Straßen zugeschneit, die Bäume weiße Gespenster. Ich weiß heute noch nicht, welcher Teufel meine Mutter ritt – der Teufel der Phantasielosigkeit am ehesten –, mich am frühen Morgen in diesen Schnee hinauszuschicken, in diesem Sibirien ohne jede Kontur meine Schule zu suchen. Es war noch dunkel draußen, und ein Sturm tobte. Schnee fegte mir ins Gesicht. Ich stapfte also vor mich hin, der Schnee ging mir bis zum Bauch. Ich hatte eine Mütze (den Watutin, einen russisch anmutenden Pelzhut, den ich hasste, weil mein Vater ihn den Watutin nannte), die hohen Schuhe und Wollhandschuhe, das schon. Aber schon nach den ersten Schritten war alles an mir steifgefroren. Ich wusste nicht mehr, ob ich vorwärts oder rückwärts oder bergauf oder bergab ging. Ob ich überhaupt vorwärtskam. Ich war in einem Himmel, der rings um mich herum gleichermaßen weiß war. Stille, in der nur der Schnee zu hören war, wenn ich den Fuß bis zum Gürtel anhob und ihn mit einem möglichst weiten Spreizschritt weiter vorn in den noch unberührten Tiefschnee versenkte. Als ich endgültig nicht mehr wusste, wo ich war, blieb ich stehen. Ich stand so eine Weile und wurde mehr und mehr zu einem Teil dieser arktischen Natur. Kurz bevor diese mich ganz aufgenommen hatte, schüttelte ich mich, drehte mich um und ging in meiner Spur zurück. Die war kaum mehr zu sehen, bald gar nicht mehr, aber ich fand – an der Hand meines Schutzengels – trotzdem heim und fiel klirrend ins Haus. Meine Mutter schimpfte nicht mit mir, obwohl auch der ganze Korridorteppich voller Schnee war. Vielleicht, weil ich zu blau im Gesicht war und meine Augen zu glasig blickten.
Von der großen Schule (der Primarschule) weiß ich noch weniger. Die Schuljahre gingen halt so hin. Im Schreiben war ich nie viel mehr als knapp genügend, weil ich zwar Die Dame Dora oder Tut tut ein Auto, nein, es ist der Autobus ganz gut schreiben konnte, die Buchstaben aber unweigerlich mit dem Ärmel verwischte und das Ganze mit einem Tintenspritzer quer über das Blatt abschloss. Meine erste Lehrerin war Fräulein Gass (der Name ist in meinem Gedächtnis, das Gesicht nicht), die bald verschwand (in einer psychiatrischen Klinik). Ihr folgte Frau Wyss, die ausschließlich von Vögeln sprach, von unsern gefiederten Freunden, so dass ich für einige Monate eine Passion entwickelte, verletzte Amseln heimzubringen oder auf dem Fensterbrett Finken und Meisen zu füttern. Fräulein Leu dann! Sie liebte ich, sie war mir so lieb (sie war so lieb), dass ich, wenn ich sie in späteren Jahren – längst anderswo in einer andern Schule – auf der Straße traf, für den Rest des Tags gestärkt war durch unser herzliches Plappern ein paar Minuten lang. Sie hieß jetzt Frau Moosbrugger und hatte, Herrn Moosbruggers wegen, kurz nach mir unsere gemeinsame Schule auch verlassen und war, wie ich, auch in Riehen gelandet, nicht aber in meiner neuen Schule, denn diese, eine strenge Bubenschule, duldete keine Frauenlehrer. Erst als ich in Riehen war, keimte in mir eine erste Ahnung auf, dass es unterschiedliche Schulen gab und dass ich mit der auf dem Bruderholz ziemlich Schwein gehabt hatte. – Von den Mitschülern erinnere ich mich an Rosemarie Fasnacht, weil sie neben mir saß. Mir kam das seltsam vor, neben einem Mädchen zu sitzen; ein Bub wäre mir lieber gewesen; und ich hatte keine Ahnung davon, dass ich just in der einzigen Schule Basels war, die mit der Koedukation herumprobieren durfte und auch sonst ein Modell moderner Pädagogik war. – Ich verehrte auch ein Mädchen, das Heidi hieß. Heidi Rufli. Ihr Vater war rechter oder linker Verteidiger der Fußballnationalmannschaft, der beste Ausputzer weit und breit. Ich war ein paar Mal bei ihr zu Hause, wo wir mit ihren
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