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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Vögeli, mein Schicksal, ihre Einführungsrede an die versammelten Kinder unterbrach, die alle mit großen Augen zu diesem tobenden Buben hinsahen, der seinen Kopf in die Röcke seiner Mutter wühlte und »Nein! Nein!« heulte. – Trennungen sind bis heute nicht meine Stärke. Lange löste ich das Problem, indem ich besonders unbesorgt aufbrach, ohne Abschiede und vor mich hin trällernd. Ich wurde ein entschlossener Nestflüchter, weil ich ein so zäher Nesthocker gewesen war. – Irgendwann erschöpfte sich mein Widerstand. Durchs Fenster sah ich, wie meine Mama davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie trug ihren braunen Mantel, der aus Kamelhaaren gemacht war. Das war das. Ich wusste, dass ich von nun an mit Fräulein Vögeli und diesen völlig fremden Kindern durchkommen musste. Dabei war Ursi, die Schwester Franzjoggis, eines von ihnen.
    (Es war eine Niederlage. Kurz zuvor hatte ich einen Trennungskampf noch gewonnen. Nämlich, meine Eltern wollten sich ein paar lustige Tage machen und schoben mich zu Tante Nettel ab. »Sie freut sich so auf dich, das wird sicher wunderschön!« Dabei mochte ich Tante Nettel, eine alte Dame mit einem sabbernden Hund namens Gryff, nicht sonderlich. Sie verbrachte ihre Sommer in Mettenbach im Kanton Bern, in einem dumpfen Chalet aus schwarzem Holz. Ich weinte zwei Tage lang am Stück, am Fenster stehend. Vor mir, verschwommen in den Tränenschlieren, ein Weg, der zu einem fernen Gartentor führte. Als dieses am Abend des zweiten Tags aufging und mein Vater sichtbar wurde, schiss ich in die Hosen vor Glück.)
    Sonst weiß ich vom Kindergarten nicht mehr viel. Vielleicht, dass wir Kinder alle dachten (ich dachte es jedenfalls), dass Fräulein Vögeli blöder als Fräulein Moog war, ihre Kollegin im andern Raum, denn was immer die Kinder von Fräulein Moog bastelten – einen Sankt Nikolaus, einen Weihnachtsstern, einen Osterhasen –, fertigten wir Vögeli-Kinder drei Wochen später auch an. Den Nikolaus zu Weihnachten, den Stern im neuen Jahr und den Osterhasen zu Pfingsten. Nie waren wir die Ersten. Auch lächelte Fräulein Moog sanft, wenn sie eines ihrer Kinder an den Ohren zog, und Fräulein Vögeli schaute auch streng, wenn sie bester Laune war. – Umso besser erinnere ich mich ans In-die-Schule-Gehen oder ans Aus-der-Schule-Heimkommen. Das war ein langer Weg. Ich brauchte, als ich ihn kürzlich ging, zwanzig Minuten. Aber wir waren ja Kinder. Kurze Beine und voller Spiele, die uns zwangen, Umwege aller Arten zu gehen. Die Bruderholzallee war von ihrem Anfang bis zum Ende mit Bäumen bepflanzt, die in von niedrigen Miniaturzäunen umsäumten Grasgevierten wuchsen. Auf diesen Zäunen, schmalen Metallleisten, balancierten wir die ganze Allee hinauf, die immerhin so lang war, dass wir an zwei Straßenbahnhaltestellen vorbeikamen. Wer es nicht bis zum Ende eines Gevierts schaffte, musste zurücklaufen und nochmals beginnen. Die andern – Ursi, Franzjoggi zuweilen, auch Richi – waren da unbarmherzig; ich war es ja auch, wenn Ursi einen Meter vor dem Ziel scheiterte. Zudem geschahen noch andere Dinge unterwegs. Die Straßenbahn, auf deren Geleise Franzjoggi Knallkapseln legte. Wir dann hinter einem Gebüsch auf der Lauer, bis die Bahn kam und ein Maschinengewehrfeuer auslöste. Oder einmal ein Lieferauto der Firma Bell (das war, zugegeben, ein einsamer Höhepunkt), das die Reservoirstraße herabgefahren kam und, direkt vor unsern Augen, die 180-Grad-Kurve vor dem Restaurant Bruderholz so forsch nahm, dass es umkippte und auf dem Dach ein Dutzend Meter weiterschlitterte. Ein verdutzter Mann entstieg dem Fahrzeug, verkehrt herum und unverletzt. Die rückseitige Tür war aufgegangen, und Hunderte von Wiener Würsten lagen auf der Straße verstreut, bis zur Treppe, die zur Terrasse des Restaurants Bruderholz hochführte. (Auf diese Terrasse lud ich einmal Nora, als ich irgendwie an zwei Franken herangekommen war, zu einem Glas Süßmost ein. Wir saßen an einem grünen Metalltisch, wurden lieb bedient und plauderten wie die Erwachsenen, als aus der Straßenbahn, deren Haltestelle direkt unter uns lag, mein Vater ausstieg. Hut, Mantel, Mappe, alles da. Wir tauchten, bevor er uns sehen konnte, hinter die Brüstung hinab; als seien wir dabei, etwas Verbotenes zu tun. Heute bedauere ich, dass ich meinen Vater nicht, zur Straße hinunterrufend, auch zu einem Most einlud. Er hätte sich sicher gefreut, auch wenn er – ich hatte ja nur das Geld für zwei – seinen Most selber

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