Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Auch unser Garten wurde requiriert. Er war so groß, dass der Bund ihn in eigener Regie bebauen wollte, aber Norina, Erwin, meine Mutter und mein Vater überzeugten die Beamten – die die Entlastung vermutlich gern annahmen, die Ergebnisse aber dennoch genau kontrollierten –, dass sie das selber könnten. Wir wurden im Krieg Selbstversorger und gaben das überschüssige Gemüse an andere weiter.
Die Berge, die keine Nahrungsmittel liefern konnten, bekamen eine andere Funktion. Zum einen wurden sie der Ort, an dem der Generalstab seine Réduit-Strategie Wirklichkeit werden ließ (die Alpen als schwer bewaffneter und unüberwindbar gemeinter Riegel), zum andern wurden sie für viele ein ins Ideale erhobener Ort der Reinheit und der Unschuld, in den sie sich, wann immer das möglich war, zurückziehen konnten. Gerade weil der politische Alltag so fürchterlich war, wurden die Alpen auch für die urbanen Schweizer zu ihrem Rettungsort. Sie waren ja auch noch nicht das touristische Gewimmel und Gewusel von heute. Wer in jenen Jahren auf einen x-beliebigen Berg stieg, war mit Garantie allein. Die schier zeitlose Schweiz, bis in die Fünfzigerjahre an vielen Orten zu finden, ist heute mehr oder minder verschwunden. Auch versteckte Maiensässe sind heute keine Orte der Unschuld mehr.
Im Übrigen vergessen wir heute leicht, dass die Menschen in der Schweiz damals nicht wussten, dass sie heil aus der Katastrophe herauskommen würden. Die Prognosen waren nicht gut, und mindestens bis Stalingrad musste jeder, der seine fünf Sinne beisammenhatte, damit rechnen, dass die Wehrmacht früher oder später einmarschieren würde. »Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das nehmen wir beim Rückweg ein«: Dieser deutsche Landser-Vers wurde auch in der Schweiz in einer Mischung aus Angst und Spott oft zitiert. Der Rückweg bedrohte dann, Ironie des Schicksals, tatsächlich die Schweiz ein letztes Mal, weil aus Italien heimwärts fliehende Truppenteile versucht waren, sich durch die Schweiz hindurch nach Norden zu schlagen. Wieso Hitler den Angriff auf die Schweiz mehrmals wieder abblies, ist eine bis heute nicht ganz beantwortete Frage. Es gab wohl einfach andere Prioritäten, und plötzlich war’s dafür zu spät.
Parallel zu diesem Gang der Geschichte verlief die innenpolitische Stimmung der Schweiz. Solange die Wehrmacht triumphal erfolgreich war, gab es manchen, den diese Siege verführten. Es gab die Fröntler, und es gab die ängstlichen Anpasser bei den Behörden und in der Industrie, die es sich mit niemandem verderben wollten. Der Schweizer Botschafter in Berlin, Hans Frölicher, war ein Musterbeispiel solcher Anpassungsdiplomatie, die zwischen einem Nazi und einem Demokraten keinen Unterschied machte, wenn es dem Verhandlungsziel diente. Auch der Bundesrat war nicht über jeden Verdacht erhaben. Bundespräsident Pilet-Golaz hielt – im Namen des Gesamtbundesrats – im Juni 1940 eine Rede, die man nur als eine Vorbereitung auf einen Anschluss ans Deutschland der Nazis deuten konnte. Die Gefahr schien tatsächlich so groß, dass Teile der Armee – Offiziere alles in allem – einen demokratischen Putsch planten, der in dem Augenblick, da die Regierung tatsächlich den Anschluss hätte vollziehen wollen, durchgeführt worden wäre. Durch eine Panne flog die Verschwörung auf. Es gab einen heftigen Aufruhr (der Bundesrat sprach von Hochverrat und Militärprozessen), und das Ganze wurde nur deshalb halbwegs gütlich beigelegt, weil sich der General sofort energisch auf die Seite der Putschwilligen schlug und ihnen einzig vorwarf, dass sie ihn nicht eingeweiht hätten. Statt zu exemplarischen Strafen (es gab im Militärrecht die Todesstrafe, und sie wurde während des Kriegs auch mehrfach ausgesprochen und vollstreckt) kam es zu disziplinarischen Verweisen und kurzen Arreststrafen, die die Hauptschuldigen gemeinsam in der Kaserne Thun verbrachten.
Die Schweiz hatte ihre Fröntler, und sie hatte ihre Linke. Die Kommunistische Partei war, im Gegenwind des mächtigen Faschismus, immerhin so groß geworden, dass der Bundesrat es zu vermeiden versuchte, Hitler mit einer im parlamentarischen System zugelassenen KPS zu provozieren, und sie 1940 verbot. Sie existierte nun also im Untergrund und hatte scheinbar wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung. Als aber die Kriegsgeschicke sich wendeten, der Roten Armee die Herzen auch von Schweizern, die mit dem Kommunismus gar nichts am Hut hatten, zuflogen (wäre Stalin auf die
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