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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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während meine Mutter weit respektvoller von ihr sprach. Mit einem der Nachbarn, gar mit uns Kindern, wechselte sie nie ein Wort. Wahrscheinlich sprach sie eine Sprache, die wir gar nicht verstanden hätten. Sie hatte ihren Garten mit Stolperdrähten ausgelegt, die, wenn man sie berührte, eine Sirene (und, sagte man, einen Alarm im Polizeiposten) auslösten. Wir tappten aber nie in ihre Falle. Sie jedoch erging sich fast jeden Abend in ihrem Garten, weiß mit einem weißen Sonnenschirm in einer Hand, die von einem weißen, bis zum Ellbogen reichenden Handschuh geschützt war, beugte sich anmutig über weiße Rosen oder ein Maßliebchen oder griff nach einem Ast des Zierkirschenbaums: Und schon heulte die Sirene los. Ihr Pudel, weiß auch er, raste bellend im Kreis herum, und sie stand hochaufgerichtet da und suchte mit flackernden Augen den Eindringling zu entdecken. – Als ich sehr erwachsen war, vor ein, zwei Jahren erst, erfuhr ich, dass sie die Schwester von Herrn Kramer war. Fräulein Kramer! Eine Ärztin! Vielleicht behandelte sie nur weiße Krankheiten. Den weißen Fluss, den Milchschorf, den Albinismus, die Weißglut.
    In einem glühenden Sommer (nach dem Krieg gab es zwei oder drei Sommer, in denen die Wälder von selber explodierten und Getreidefelder einfach so in Flammen standen) wollte Franzjoggi mir und sich beweisen, dass es bei dieser Sonne möglich war, mit einer gewöhnlichen Lupe (die, mit der wir uns auch die Eidechsenschwänze angesehen hatten) Gras in Flammen zu setzen. Es zeigte sich, dass das sogar leicht möglich war. Wir hatten das Gras vor der Eidechsenmauer der Villa Herrn Kramers ausgewählt, über dem der Buchsbaum wuchs. Die Böschung stand sofort in Flammen, und ein paar Minuten später brannten schon die ersten Buchsbäume. Qualm, Prasseln, ein Inferno. Wir rannten davon, jeder in sein Haus. Irgendwer, der kein Kind war, bemerkte den Brand auch und rief die Feuerwehr. Diese kam nach etwa einer Viertelstunde – nun brannte die ganze eine Heckenseite – in Form eines gelassen dahertuckernden Motorradfahrers, der angesichts der Flammen nun doch angemessen aktiv wurde und ins Telefon meiner Eltern hineinrief, er brauche einen ganzen Löschzug, und zwar subito. Ich zog mich auf die kleine Terrasse hoch oben zurück (die, von der aus ich Bea Geiser nassgespritzt hatte) und sah auf die haushohen Flammen, die nun ernsthaft drohten, die Kramer’sche Villa in Brand zu setzen. In ihrem Garten zeterte die weiße Dame, und ihre Sirene heulte für einmal mit gutem Grund. Die Feuerwehr kam, ein Dutzend Männer rannten herum, rollten Schläuche aus, spritzten aus allen Rohren und löschten den Brand. Der Garten sah jetzt aus wie nach einer Katastrophe. Das Gras ein nasser Schlamm. Die Buchsbäume schwarze Stummel. Rauch immer noch, da und dort. Die Großen standen auf der Straße beieinander und sagten, was das für ein Sommer sei, wo die Bäume ganz von selber anfingen zu brennen. Ich, ich traute mich noch lange nicht von meinem Balkon hinunter.
    Es gab keinen Tag, an dem Migger und ich nicht zusammensteckten, und ich war mit einer Selbstverständlichkeit in seinem Haus, als sei ich ein Teil der Familie. Seine Eltern waren so anders als meine. So normal. Seine Mama war dick und lachte ununterbrochen – Migger nannte sie »Motte« –, und der Vater, ernster, arbeitete im Elektrizitätswerk, kam abends im Blaumann nach Hause, hieb mit einem Handkantenschlag eine Bierflasche auf und ließ Migger und mich den Schaum trinken. – Einmal bestritten wir einen Marathonlauf mit Massenstart. Die Masse bestand aus Migger, seiner Schwester Ursula und mir, aber wir hatten eine Start- und Ziellinie quer über die Straße gezogen und trugen sehr offiziell aussehende Startnummern, die wir mit Sicherheitsnadeln auf das Trikot geheftet hatten. Ich hatte, obwohl wir ja nur drei waren, die 122. Gewiss wegen unserer Hausnummer. Marignanostraße 122. Der Start war um fünf Uhr früh, Gott weiß warum. Entweder damit uns niemand sah oder weil die Sonne später zu heiß brannte. Die Route führte die Marignanostraße hinunter, durch die Novarastraße, die ganze Bruderholzallee hoch bis zur Schule und zurück. Franzjoggi – jetzt zeigten sich seine vier Jahre Vorsprung deutlich – fegte wie eine Kampfmaschine davon, und mir gelang es immerhin, Ursula auf Distanz zu halten, die gleich alt wie ich, aber doppelt so dick war. Die Streckendistanz war zwar nicht 42,532   Kilometer, wie es sich für einen echten

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