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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Puppen spielten oder Butterbrote mit Zucker drauf aßen. Weil aber ihr Vater nie auftauchte, schlief meine Liebe wieder ein. – Ja, und Vreneli Wanner. Sie war ein ungeschicktes Mädchen mit einer Brille. Wir Buben verfolgten sie auf dem Heimweg, umringten sie mit unserm Gejohle und ließen sie erst wieder frei, wenn sie »Schuemächerli, Schuemächerli, was koschte dini Schueh« gesungen hatte. Sie hatte eine kleine, zitternde Stimme und war den Tränen nahe. Scham überflutet mich heute noch, wenn ich an sie denke.
    AN einem Tag sagte meine Mutter zu mir, wir sollten einen kleinen Spaziergang zusammen machen. Sie hatte ein ernstes Gesicht, verweint, kann sein. Ich war auf der Hut. Eltern, die kleine Spaziergänge mit ihren Kindern machen wollten, hatten selten eine gute Nachricht. Das war mir schon mit meinem Vater passiert, der vor ein paar Wochen erst mit mir spazieren wollte und mir sagte, dass mein Großvater gestorben sei. Ich hatte meinen Vater noch nie mit so einem Gesicht gesehen. Er, der aus allem einen Witz zu machen verstand, war einfach nur traurig. Meine Mutter eröffnete mir, dass wir das Haus verlassen mussten. (Hinter meinem Rücken waren die Streitigkeiten zwischen Erwin und meinen Eltern eskaliert. Vor allem zwischen Erwin und meinem Vater. Sie brüllten sich an – ich kriegte das nicht mit, oder falls doch, ignorierte ich es – und schrieben sich bald, von Stockwerk zu Stockwerk, lange Briefe, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen. Ich habe sie später gefunden. Die einzige Vernünftige in diesen absurden verbalen Raufereien war meine Mutter. Realitätsgerecht, besonnen, lebensklug.) – Sie und Papi hätten, sagte meine Mutter, in Riehen eine schöne Wohnung gefunden. Schön, ja, ganz schön. Sie brach in Tränen aus. Für sie war es die Vertreibung aus dem Paradies, und für mich auch. – Der Möbelwagen kam, von der Firma Keller, unser Hab und Gut wurde eingeladen, und wir fuhren zu viert mit der Straßenbahn quer durch die ganze Stadt an ihren nördlichsten Rand. Nach Riehen. Hand in Hand gingen wir auf das Haus zu. Der Vater hielt Nora an der Hand, und ich beschützte meine Mutter.

IN den Vierzigerjahren wurde die Schweiz für ihre Bewohner zu einem fragilen Schutzort, der sehr einem Gefängnis glich. Niemand mehr konnte das Land verlassen, für die Dauer des Kriegs sowieso nicht; aber auch in den Jahren danach war es durchaus schwierig, nach Deutschland, Frankreich oder Italien zu gelangen. Nicht einmal Care-Pakete mit einem Pfund Kaffee und einer Tafel Schokolade drin waren erlaubt.
    Die Schweizer mussten lernen, mit sich selber und ihrem Land zu leben, und nur mit diesem. Kinder mochten damit gut klarkommen; für Erwachsene wurde es durchaus eng auf diesem winzigen Stück Erde, wo überall unbewohnbare Berge den Weg versperrten. Damals war der vielzitierte Begriff der Enge angemessen, nicht heute. Ringsum Feinde: im Norden die Deutschen, im Westen und Osten bald auch, im Süden Mussolini. Die alliierten Freunde waren, als sie sich dann zu regen begannen, für lange Zeit noch weit weg. Es sah damals so aus – es war so –, dass die Schweizer ihre Neutralität ganz allein verteidigen mussten. Dass dies zuweilen mit fragwürdigen Mitteln geschah, ist seither klarer geworden als es dies damals war.
    Jedes Leben war, direkt oder indirekt, auf die Kriegsereignisse bezogen, die unsichtbar waren und trotzdem gut hörbar hinter dem Horizont dröhnten. Jede Familie hatte in irgendeiner Form mit dem Militär zu tun (»Aktivdienst«, jeder, der noch halbwegs gehen konnte, wurde aufgeboten), und jede und jeder erlebten, dass Rohstoffe, Elektrizität und vor allem die Lebensmittel knapp wurden. Es gab bald von sozusagen allem zu wenig, und bald brauchte man für alles und jedes Marken. Sie schränkten den Verbrauch von Fleisch oder Zucker massiv ein. Brot war nun mindestens einen Tag alt, wenn man es kaufte. (Man aß so weniger davon.) Wenn man zum Essen eingeladen war – das Porzellan von früher, das Beefsteak darauf winzig –, legte man zum Abschied seine Marken hin. Der Plan des Bundesrats Traugott Wahlen, die Schweiz in einem kollektiven Kraftakt autark zu machen, betraf jeden, der wenigstens einen Vorgarten hatte. Er musste seine paar Begonien ausreißen und zwölf oder zwanzig Kartoffelstauden pflanzen und pflegen. Jede Verkehrsinsel war mit einer Handvoll Getreide bewachsen; mitten in Zürich ein Weizenfeld; jede Parkanlage produzierte ein paar hundert Laibe Brot.

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