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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Marathonlauf gehört hätte, sondern eher so was wie drei oder vier Kilometer. Eine tüchtige Distanz dennoch. Es tat weh, noch weit auf dem Hinweg (vor dem Haus, in dem später Walter Muschg, mein Universitätslehrer, wohnen sollte) dem zurückkommenden Franzjoggi zu begegnen, der ohne einen Blick oder gar ein Lächeln an mir vorbeischnaufte. Er trug die Nummer 42, obwohl er in der 110 der Marignanostraße wohnte. Ich traute mich nicht, einfach auch umzukehren. Ich hatte meine hohen Ideale als Langstreckenläufer, und zudem lief Ursula unermüdlich hinter mir (mit der 12 auf der Brust). Ich rannte ebenfalls ohne eine Regung an ihr vorbei, als ich ihr auf dem Rückweg begegnete. Sie benutzte die Begegnung allerdings sofort dazu, das Rennen aufzugeben und im Tempo eines Mädchens zum Ziel zurückzubummeln. Natürlich holte ich Franzjoggi nicht mehr ein, Migger, aber einen Podestplatz hatte ich auf sicher. Bei der nachfolgenden Siegerehrung, an der als applaudierendes Publikum auch Nora, Regeli, Vreni Fuchs, Maja Staufer, Agi Geiser und sogar Bea teilnahmen, musste Ursula, von einer Teilnehmerin zur Ehrendame auf- oder abgestiegen, uns Medaillen umhängen. Franzjoggi eine goldene, mir eine silberne. Er hatte sie – und auch eine kupferne – am Abend vorher aus Büchsendeckeln gebastelt. Nescafé, Leckerli, Zigarillos. Ursula kriegte nichts, nicht einmal einen Trost. Aufgegeben war aufgegeben. Immerhin durfte sie ihre Basler Tracht anziehen und uns, die wir auf zwei verschieden hohen Podesten standen, die Wangen küssen.
    Irgendwann war unsere gemeinsame Zeit vorbei. An einem Sommertag (1948, ich war jetzt zehn) alberten wir ein letztes Mal herum – so als lägen noch unzählige gemeinsame Jahre vor uns und voller Ahnungen, dass dem nicht so war –, denn während wir so taten, als sei alles wie immer, trugen Männer in Übergewändern unsere Möbel in einen roten Lastwagen, auf dem »Keller« stand. Migger und ich warfen eine Matratze aus dem Fenster der Mansarde in die Garageneinfahrt hinunter und hörten, während wir uns hinter der Fensterbrüstung versteckten, meine Mutter hinaufschimpfen. – Einmal später sah ich Migger noch, meinen Migger. Er kam mit der Straßenbahn an den Ort, an dem ich nun war (das war weit weg, aber Migger war jetzt vierzehn Jahre alt und konnte allein Straßenbahn fahren). Auch er hatte Sehnsucht nach mir. Wir sprengten zusammen einen Brunnen in die Luft, das heißt, Migger sprengte, und ich schaute billigend zu. Noch einmal rannten wir wie die Hasen. – Ich habe Migger seither nie mehr gesehen. Er lebte und lebt sein Leben, ich lebe meines. Wir haben jedoch einen Briefwechsel. Um genau zu sein, wir wechselten einen Brief. Er schrieb mir, und ich antwortete ihm. Oder umgekehrt. Einmal, vor nicht allzu langer Zeit erst.
    NATÜRLICH ging ich auch in die Schule. Ich habe keine sonderlich tiefen Erinnerungen an sie. Eine Ausnahme: mein erster Schultag. Mein erster Tag im Kindergarten, um genau zu sein, dessen Gebäude neben den beiden Gebäuden der Schule der Großen stand und genau gleich aussah. Eingeschossige Trakte mit Flachdächern und Fenstern, die bis zum Boden hinabreichten. Zwischen den Gebäudeflügeln Grasflächen voller Blumen und mit einem Wasserbecken, in dem Seerosen schwammen. Bienen, Schmetterlinge. Es war fürchterlich. Völlig entsetzlich, tödlich. Meine Mutter schleppte mich – ich war fünf oder bald sechs Jahre alt – an einem steifen Arm ( mein Arm war steif) die Marignanostraße hinunter (ich wehrte mich und schrie), durch die Novarastraße (ich brüllte), vorbei am Restaurant Bruderholz (ich war blind vor Angst), die Bruderholzallee hinauf (ein Vieh, das man zur Schlachtbank führte), durch die Peter-Ochs-Straße (befreite mich denn niemand?) und einen namenlosen Weg, eine Art Hohle Gasse zwischen Gebüschen. Mein späterer Schulweg, der dann auch die Marathonlaufstrecke war. Inzwischen hatte ich einen puterroten Kopf, einen schräg nach hinten gelehnten brettersteifen Körper und starre Beine mit Schuhen, deren Absätze sich in den Kies des Fußwegs gruben, wenn meine Mutter versuchte, mich wieder ein paar Meter weiterzubringen. Als wir beim Kindergarten ankamen, waren wir natürlich viel zu spät. Ich schrie nun wie am Spieß und konnte nur deshalb nicht fliehen (panisch, durch die Felder, in die Wälder), weil meine Mutter mich mit Eisenhänden festhielt. Es dauerte lange, bis sie mich über die Schwelle des Kindergartenraums gezerrt hatte, wo Fräulein

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