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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Idee gekommen, nach der ersten Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad durch die Bahnhofstraße von Zürich zu paradieren, hätte das Volk ihm zugejubelt), konnte die Bundesregierung gar nicht mehr anders, als die kommunistische Linke in irgendeiner Form wieder zuzulassen. Die KP durfte nur den Begriff »Kommunismus« nicht mehr im Titel tragen und musste »Partei der Arbeit« heißen, und die paar Platzhirsche von ehedem durften nicht mehr kandidieren, als die Partei 1944 erstmals wieder zu Wahlen zugelassen wurde. Die Ergebnisse waren triumphal. Die Schweizer Städte, Basel allen voran, wurden »rot«. Die Begeisterung für die Linke kühlte allerdings Ende des Jahrzehnts wieder ab, als die Greuel der Moskauer Schauprozesse mehr und mehr sichtbar wurden und die Informationen darüber nicht mehr als bürgerliche Propaganda gelesen werden konnten. Der Kalte Krieg, der die nächsten Jahrzehnte prägen sollte, begann seine ersten Wirkungen zu zeigen.
    Sonst vielleicht nur noch dies: Die Schweiz war bis zum Ende der Vierzigerjahre kein reiches Land. Noch nicht. Gewiss gab es da und dort ein paar Wohlhabende. Sackreiche sogar. Die Kanonen, die Herr Bührle nach Deutschland geliefert hatte, hatten diesen nicht arm gemacht. Aber überall sonst lebten die Menschen in einer Bescheidenheit, die allgemein war und noch nichts mit der bald einsetzenden Konsumwut zu tun hatte. Die meisten kamen gerade so durch, und viele waren regelrecht arm. Das war auch damals schlimm, weil arm sein immer entsetzlich ist: Es war aber besser auszuhalten als heute, weil so mehr oder weniger alle in ähnlichen Verhältnissen lebten. Die reiche Schweiz und die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich sind ein Phänomen der folgenden Jahrzehnte.

1948   –   1958

DAS Jahr fängt nicht mit dem Frühling an. Zu seinem Beginn herrscht Kälte, Frost. Kaum Licht. Kein Mensch kann einsehen, warum er denn nun in dieses neue Jahr hinein soll. Der Atem geht eng, jeder verkriecht sich in sich selbst. Hasen erfrieren. Vögel stürzen von den Bäumen. Die Rehe stehen eisblau unter Tannen. Der Bär in seiner Höhle hat sich so zusammengerollt, dass seine Nase zwischen seinen Hinterbeinen liegt. Er atmet so flach, dass ihm die Luft seines unter meterhohem Schnee vergrabenen Schlaflochs für den ganzen Winter reicht. Er bewegt sich nicht, du aber, draußen, klirrst, wenn du nur den Kopf hebst. Lawinen rutschen von den Dächern. Die Tage sind fahl, und die Nächte sind aus Eis.
    Dann plötzlich. Du gehst vor die Tür, du weißt nicht, warum, noch nicht. Alles ist eigentlich wie die ganze letzte Zeit über. Und doch. Da ist eine jähe Ahnung, ein ferner Jubel, dem stattzugeben du dich kaum getraust und der dir doch ins Herz hochschießt. Er ist’s! Du atmest tief ein, ja, das ist sie, die allererste Frühlingsluft, jene junge Frische, dieser neue Zauber. Du gehst, deine Augen sind ganz andere als eben noch. Sie leuchten, sie blitzen, sie glänzen blau, wo sie doch sonst grau sind. Wir ziehen die Luft in unsre Lungen hinein, wir hatten vergessen, dass wir so tiefe große Lungenflügel haben. Frei, befreit!
    Noch bleiben wir in unserer Winterhaltung, nach außen hin. Nur nicht den Mantel zu früh wegwerfen! Der sterbende Winter kann tückisch sein! Aber wir sind aufmerksam: Unsern Nüstern entgeht nun der kleinste Hauch neuen Lebens nicht mehr, und unser Auge sucht Feld und Wald nach jenem jungen Grün ab, das beweist, dass das Leben beginnt.
    Und tatsächlich, an einem Tag ist’s wie eine Explosion. Es ist nicht zu glauben. Jetzt allerdings lassen wir den Mantel, dieses Ungetüm, für alle Zeiten da liegen, wo uns der Ausbruch des Schönen begegnet ist; und wenn er, wie ein Toter, mitten auf dem Gehsteig liegt. Wir brauchen ihn ja nie mehr. – Schau um dich. Ein Licht, ein Grün, eine Wärme auf der Haut, ein Glänzen! Vögel zwitschern, alle durcheinander, und wenn auch der Kuckuck nie am ersten wahrhaftigen Frühlingstag singt – er ist ein Langschläfer –, kommt’s uns doch so vor, als hörten wir ihn schon. Wir atmen, atmen, atmen. Aus allen Winkeln und Ecken kommen auch die Menschen wieder hervor. Frauen, es gibt plötzlich wieder Frauen mit Beinen, Hintern, Brüsten, Gesichtern, die leuchten. Kinder! Wo waren all die Rollschuhe, Skateboards, Trottinetts die ganze Zeit über? Die jubelnde Welt ist sogar da schön, wo sie uns sonst, aus guten Gründen, hässlich vorkommt. Auch der Parkplatz des Einkaufszentrums strahlt in wunschlosem

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