Reise zum Rand des Universums (German Edition)
wenn ich bei ihnen war. [Nora spielte in meinen Überlegungen keine Rolle, und ihr gelang die Trennung später auch leichter als mir.] Ich pfiff noch immer, mehr denn je, wie ein Vogel. Jeder konnte hören, dass ich da war, dass es mir gutging und dass ich bei jedem Notfall sofort zur Stelle war. Wenn mein Vater nicht zu Hause war, schlich ich in sein Zimmer und sah nach, ob der Revolver immer noch unter den Medikamenten vergraben in der Nachttischschublade lag [er lag], und wenn von meiner Mutter nichts zu hören und zu sehen war [weil sie einkaufte, zum Beispiel], machte ich – ich gestand auch mir selber den Grund meiner Unruhe nicht ein – eine beiläufige Runde durch den Keller, um zu sehen, ob sie nicht in ihrem Blut in den Kohlen lag, und schaute kurz in den Estrich, ob sie am Dachbalken hing.)
NOCH war ich ein Bub und tat Bubendinge. Fahrradfahren, in der Hauptsache. Ich fuhr so viel Fahrrad, dass ich nur abstieg, wenn es gar nicht anders ging. In der Schule, zu Hause beim Nachtessen. Auch schlief ich nicht auf dem Rad. Sonst aber fegte ich stundenlang durch die Straßen und über alle Berge. Ich fuhr, wenn es nicht ums Tempobolzen ging, freihändig enge Kurven und elegante Spiralen, nur weil’s so schön war. Ich konnte auf dem Trottoir wenden und die längste Zeit stillstehen. Ich liebte jenes Spiel, bei dem ich meinen Konkurrenten so in die Enge zu treiben versuchte, dass er, ebenfalls auf seinen Pedalen balancierend, den Fuß auf den Boden setzen musste. Allerdings waren die Schöpflin-Buben ebenbürtige Gegner, und ich sah oft mich in eine ausweglose Enge getrieben. Sie waren ja auch zwei, eineiige Zwillinge zudem, und spannten zusammen. Wenn ich René, auf den Pedalen stehend, gegen die Garagentür gedrängt hatte, tauchte Hanspi, sein Doppelgänger, auf meiner andern Seite auf und zwang mich zum Absteigen.
Schon auf dem Bruderholz war ich dem Fahrrad verfallen gewesen, obwohl ich da noch so kleingewachsen war, dass ich es nicht schaffte, auf dem Sattel sitzend mit dem Rad meines Vaters zu fahren. Selbst wenn ich auf der Querstange saß, reichten meine Beine nicht bis zu den Pedalen hinunter. Ich fuhr, indem ich unter der Stange hindurch in die Pedale trat, das Fahrrad schräg nach links, meinen Körper nach rechts hängen lassend. Es war sehr unbequem, und weit kam ich so nicht. Ich nahm also, so oft ich konnte, das Rad meiner Mutter, ein Damenmodell ohne Stange, obwohl es mir auch zu groß war. Aber mit ihm konnte ich wenigstens gerade und aufrecht fahren. Meine Nase war auf der Höhe der Lenkstange, und meine Hände griffen weit nach oben, um sie zu halten.
Die Räder waren zwei tonnenschwere englische Meisterwerke der Marke Strand, die schwarz funkelten und vielleicht die einzigen waren, die je von dieser geheimnisvollen Manufaktur produziert oder jedenfalls in die Schweiz geliefert worden waren. Sie sahen wie Einzelstücke aus, Teil für Teil von Hand angefertigt. Ich habe zeit meines Lebens nie einen andern Strand gesehen, obwohl ich heute noch (seltsam, zu welch absurden Gewohnheiten der Mensch fähig ist) schaue, ob ich unter den Rädern, die an Hauswänden lehnen oder an Straßenlampen angekettet sind, einen Strand entdecke. Nichts, nur No-name-Marken wie Cannondale, Konna oder Villiger. Dann wurde ich größer, und das Rad meines Vaters wurde meines. Ich liebte es. Ich fuhr immer schneller und weiter. In meinen besten Zeiten brauchte ich für meinen Schulweg neun Minuten. Die, die die Straßenbahn nahmen, mussten mit einer guten halben Stunde rechnen. Ich hielt mit der parallel fahrenden Bahn mit, obwohl die Haltestellen – die 6 zwischen Riehen und Basel war eine veritable Überlandbahn – kilometerweit auseinanderlagen. Ich fegte wie die Windsbraut dahin und beobachtete statt der Straße den kleinen Kilometerzähler, den ich an die Nabe des Vorderrads montiert hatte, der die Gesamtzahl der gefahrenen Kilometer registrierte (so etwas wie einmal rund um die Erde) und dessen Ziffern nur so vorbeiflitzten.
Ich war Hugo Koblet oder eher noch jener Fritz Schär, der immer Zweiter wurde, meist hinter Hugo, bei unzähligen Eintagesrennen und auch an der Tour de Suisse; einmal gar im Giro d’Italia. (Ich hatte es mit den Kleinen, die trotzdem gut waren; und Fritz Schär war keine eins siebzig groß.) Denn damals – Heiri Suter, der berühmte Großonkel, war tot und galt auch mir nichts – war die große Zeit des Radsports ganz allgemein (Gino Bartali, Fausto Coppi, Louison Bobet) und die
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