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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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solle, wie es gerade war, war allerdings tiefster Ernst gewesen. Papi, Nora und mir machten die Konsequenzen, die das hatte, wenig aus. Wir gehörten alle drei zu den Menschen, die, wenn ein Kirschbaumast in einem Novembersturm heruntergekracht ist, diesen so lange liegen lassen, bis der Zahn der Zeit ihn zernagt oder das Gras ihn überwuchert hat. Jahrzehnte, wenn’s sein muss. Das galt auch für abgefallene Teile der Terrassenbrüstung oder schräg herabhängende Dachrinnen. Es war wie’s war. Kismet. Wir waren die idealen Mieter für Fräulein Doktor. Nicht aber meine Mutter. In der Tat kämpfte sie an der Front, nicht wir. Dass alles so bleiben müsse, wie es war, bedeutete nämlich auch, dass die Brennnesseln, die auf dem Kiesweg zur Haustür wucherten, nicht ausgerissen werden durften. Dass die Türklingel, die nicht mehr klingelte, nicht repariert werden konnte. Dass die defekte Birne in der Lampe über der Haustür nicht ersetzt wurde und dass die Lampe selber das durchlöcherte Rostgetrümmer bleiben musste, das sie war. Und das war nur der Haustürenbereich! Es gab den Parterrekorridor, das Treppengeländer, die Küche mit dem Gasherd, der bald, einfach aus Altersgründen, explodierte: meiner Mutter flog ein Hammer, der auf dem Abstellblech gelegen hatte, so nah am Kopf vorbei, dass der Holzstiel sie traf und ihr ein Ohr blutig schlug, nicht aber der Metallkopf, der sie getötet hätte. (Der Herd war nicht mehr zu reparieren, und Fräulein Doktor litt Qualen, wenn sie den neuen sah. Sagte aber nur die ersten zehn oder zwanzig Mal etwas, etwa, Gott sei Dank müsse ihr Papa dieses moderne Monster nicht mehr sehen, oder, der Gasanzünder gehöre aber nicht an diesen Haken, sondern weiterhin an jenen.) Das Klo! Der Schwimmer klemmte über Jahre so, dass wir jedes Mal, wenn wir spülten, uns auf die Klobrille stellen, oben in den Kasten greifen und den Schwimmer in seine richtige Stellung zurückschieben mussten. Sonst spülte die Spülung einfach weiter, ein Sturzbach wie die Lonza. Aber flicken, ein für alle Male, durften wir sie nicht. Die Heizung! Vor ihr kam ich mir wie der Heizer einer Lokomotive des Orient-Express vor – Feuergedonner in ihrem Schlund –, und genauso viel Kohle verschlang sie auch. Mit dem Verbrauch eines Winters hätten wir locker mit dem ganzen Haus von Basel nach Istanbul fahren können. Dazu das Gasschwert, mit dem wir (zuerst war mein Vater der Heizer; dann übernahm ich diese Funktion) die Kohle frühmorgens in Brand setzten und das eine stummelkurze Röhre geworden war, aus der das Feuer schoss. Auch das Gasschwert war das Vermächtnis des Fräulein-Doktor-Papas und sakrosankt. Er hatte es kaputtgemacht, und also hatte er gewollt, dass ich, statt mit einer Anzündhilfe, mit einem Flammenwerfer herumhantieren musste. Fräulein Doktor (sie behielt im Parterre ein Zimmer, in dem sie und Nobs zuweilen nächtigten) scheute sich nicht, ihre Kontrolltouren in unsre gesamte Wohnung auszudehnen. Meine Mutter ging in ihrem Schlepptau zitternd vor Angst, in ihren Rücken Entschuldigungen hineinrufend, obwohl Fräulein Doktor noch gar nichts gesagt hatte. Das kam dann schon noch, schwere Anklagen, wie man so fühllos mit dem Andenken ihres Vaters umgehen könne. Der Briefkasten habe plötzlich eine andere Klappe! Beim Hinterausgang des Gartens hänge das Türchen nicht mehr schräg in den Angeln! Und wo der Blumentopf mit der verdorrten Rose hin sei? Wenn Fräulein Doktor weg war, zitterte meine Mutter noch eine Stunde lang, und wenn sie am nächsten Abend wiederkam, wurde sie bleich, bevor wir andern die auf dem Kies näherknirschenden Schritte gehört hatten.
    Ich bekam ein Zimmer unterm Dach. Ich war ganz allein da oben und beherrschte auch die andere Mansarde, den Estrich und ein Waschbecken mit fließend kaltem – im Winter sehr kaltem – Wasser. Durchs Fenster sah ich ins Blättergrün eines riesigen Nussbaums (im Sommer), und im Winter, durch die kahlen Äste hindurch, bis zur Stadt und auf die Rebberge des Tüllinger Hügels, der bereits zu Deutschland gehörte. Noch weiter hinten, blau verschwimmend, der Rhein und das gleiche Elsass, das ich vom Bruderholz aus von der andern Seite her gesehen hatte. Auf den Ästen des Nussbaums saßen, im Winter jedenfalls, Raben, ein Dutzend und mehr Raben, die schwarz zu mir hinsahen. Immer, an jedem Morgen waren die Raben da. Ich versuchte, sie gern zu haben, aber sie blieben finster. Bewegungslos, wie ein Zeichen für etwas, was ich nicht

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