Reise zum Rand des Universums (German Edition)
zu deuten wusste. Im Sommer war meine Mansarde glühend heiß (das liebte ich), im Winter eiskalt (das fand ich weniger schön). Die Orient-Express-Heizung schaffte es nicht, die Heizkörper im Dachstock auch nur lauwarm zu kriegen, selbst wenn sie mit voller Kraft lief. Ich saß dann eben in dicken Pullovern und Fellpantoffeln an meinem Schreibtisch, der einst der meiner Mutter gewesen war und seine Tür aus Nussbaumholz während einem der Umzüge verloren hatte. Zuweilen trug ich Handschuhe. Ich hatte eine elektrische Heizwand, die nachtsüber anzulassen mir untersagt war. Ich weiß nicht, was die Angst meiner Mutter war. Dass ich Feuer finge und das ganze Haus mit mir, oder dass es hundeteuer war, die Heizung die ganze Nacht über brennen zu lassen. Ein Gemisch von beidem wohl. Ich hielt mich jedenfalls ans Verbot. Am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelte und die Raben noch schliefen, drehte ich als Erstes – das Federbett noch immer über beiden Ohren und mit einer Hand in die sibirische Kälte hinausgreifend – den Schalter der Heizwand auf die dritte Stufe. Drei Drehungen. Auf der Heizwand hatte ich beim Ins-Bett-Gehen in der Reihenfolge des Anziehens meine Unterhose, das Hemd und die Socken bereitgelegt. Den Pullover zuunterst. Ich wartete also, dösend, noch fünf Minuten unter den Daunenbergen geborgen, und schwang mich dann – alle Empfindungen auf null gestellt – in die minus drei Grad meines Zimmers hinaus. Die warmen Unterhosen, die heißen Socken, der glühende Hemdenstoff und der schier brennende Pullover retteten mir das Leben. Ich war immer zu spät, entsetzlich zu spät, und stürzte, die Hose zuknöpfend, die Treppen hinunter, am Frühstückstisch vorbei, auf dem meine Mutter, eher pro forma, ein Frühstück bereitgestellt hatte, das zu essen ich nie Zeit hatte. Draußen war’s noch dunkel, immer eigentlich; sogar im Sommer begann die Schule so früh, dass die Sonne unterwegs auf dem Schulweg aufging.
(WENN meine Mutter jetzt durchs Haus streifte und mit ihren Geistern disputierte – sie verlor diese Gewohnheit nie ganz –, war sie so weit weg, dass ich gar nicht in Versuchung kam, sie verstehen zu wollen. Da war nur noch das Zischeln, das Wörterrascheln, treppauf, treppab. Wie früher durchaus, aber kaum noch zu hören. Auch die handfesten Streitigkeiten von Vater und Mutter drangen aus einer weit ferneren Welt zu mir herauf. Ihr Ablauf blieb allerdings auch im neuen Haus der gleiche: Meine Mutter, die zuerst unentschlossen dahin und dorthin gegangen war und ihre ersten Sätze geprobt hatte – leise, atemlos –, trat heftig ins Zimmer meines Vaters – »Walter, wir müssen reden!« –, schloss die Tür und sagte ihm, was ihr das Herz verbrannte. All die Sorgen und Ängste, die sich in ihr aufgestaut hatten. Ich hörte sie nur, weil ich wusste, was sich in dem Zimmer unter mir abspielte und weil die Stimme meiner Mutter durch Wände und Fußböden drang, auch wenn oder besonders wenn sie ohne Ton sprach, nur mit dem Druck ihrer Lungen. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder ahnten, dass es zwischen ihr und ihrem Mann Unstimmigkeiten geben könnte. Sie sprach hastig, schnell, hie und da aufschluchzend, und mein Vater, von dem eine ganze Weile lang nichts zu hören gewesen war, brüllte auf einmal so laut los, dass die Fenster klirrten, und stürmte gleich darauf aus dem Zimmer und die Treppe hinab und zur Haustür hinaus. »Du gibst mehr Geld aus als du verdienst!«, rief ihm meine Mutter nun gar nicht mehr leise nach. »Jeden Monat! Bücher! Und du kaufst mehr Schallplatten, als du hören kannst!« Die Tür krachte ins Schloss, meine Mutter stöhnte noch ein, zwei Male und ging in die Küche. – An der Marignanostraße hatten Nora und ich uns noch aneinandergeklammert und uns gegenseitig die Ohren zugehalten, wenn diese unglückseligen Gewitter losbrachen. An der Bettingerstraße versuchten wir bereits zu verstehen, was meine Mutter aus sich herauszischte und was mein Vater zurückbrüllte, und waren jedes Mal bereit – denn jedes Mal schien der Konflikt endgültig zu sein –, mit dem uns vom Schicksal zugeteilten Elter wegzugehen, ohne Abschied, ohne uns noch einmal umzuwenden. An der Wenkenstraße dann [das neue Haus stand an der Wenkenstraße, Nummer 46] war ich mehr und mehr überzeugt, dass ich, nur ich die Familie beisammen- und am Leben halten konnte und dass ich deshalb das Haus nie mehr verlassen durfte, weil meine Eltern sich und einander nur dann nicht umbrachten,
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