Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Lengwil oder Bosnang einstecken, zwei Provinzvereine aus Dörfern mit kaum vier Häusern. – Bachi war im technischen Zeichnen besser als ich. Seine Lokomotiven und Waggons waren von bewunderungswürdiger Präzision, während meine zuweilen etwas schief daherkamen. Beide erschufen wir aber Landschaften von hoher Schönheit. Sonnenuntergänge, es gab mehrere Sonnen über unserm Land.
DIE Wahrheit war, dass ich alles tat, um nicht erwachsen zu werden. Ich wollte, um jeden Preis sozusagen, ein Bub bleiben. Auch als ich der Einzige in der Klasse war, der immer noch kurze Hosen trug, und sogar mein Freund Bachi, ein Kindskopf wie ich, in dicke Mäntel eingepackt war und die Straßenbahn nahm, weil es stürmte und schneite. Ich fuhr auf meinem Rad, in meinen Hosen, und kam mit blauen Beinen in der Schule an. Allenfalls ließ ich mich zu Knickerbockern überreden. (Niemand überredete mich; meine Mutter fror nie und wusste nicht, dass andere kalt haben. Und meinen Mitschülern waren meine Eisbeine egal.) Ich fand lange Hosen, wie sie die Männer und längst auch meine Klassenkameraden trugen, lachhaft oder eher wohl gefährlich, denn wer einmal solche Hosen trug, kam auch um die andern Dinge, die Erwachsene zu tun gezwungen waren, nicht herum. Mit einer tiefen Stimme sprechen, sich rasieren gar. Mit Mädchen sein. – Am Konfirmationssonntag kam ich allerdings nicht darum herum, auch so einen Anzug zu tragen. Kittel, Hose, weißes Hemd, Krawatte, wie alle. Vielleicht war das der Grund – ich hielt es später für meine erste erwachsene Handlung –, gleich in der folgenden Woche aus der Kirche auszutreten. Ich schrieb einen lakonischen Brief. (Der Pfarrer, der Pfendsack hieß, kam sehr erregt zu uns nach Hause und wollte meinen Vater, nicht mich!, davon überzeugen, dass ich dabei sei, mein Seelenheil zu verspielen. Aber mein Vater hielt zu mir und lachte Herrn Pfendsack fröhlich an. Ich kam dann auch dazu, in kurzen Hosen, und der Pfarrer gab sich geschlagen.) – Ich wehrte mich noch einige Monate gegen das Großwerden. Meine Stimme war längst tief, und ein paar Barthaare hatte ich auch. So dass ich mich von einem Tag auf den andern geschlagen gab und nun einen stinkeleganten Regenmantel und ein Seidenfoulard um den Hals trug. Lange Hosen, natürlich.
ZWEI Erinnerungen aus den Kinderzeiten muss ich aber noch erzählen, bevor ich die ersten Schritte in die Welt der Erwachsenen tue. Nämlich, erstens: Weihnachten. Weihnachten war der Tag, ein Abend eigentlich eher, der heilige Abend, an dem – durchaus anders als das restliche Jahr über – jeder von uns lieb, höflich und voller Freude war. In jedem Augenblick, ohne jede Pause leuchteten meine Augen, waren Noras Wangen rotglühend, schaute meine Mutter gütig und schmunzelte mein Vater uns zu. Er hatte seine Strickjacke mit einem Sakko vertauscht und trug Schuhe statt Pantoffeln, und meine Mutter hatte die Weihnachtsbluse angezogen, die aus roter Seide war und zarte Perlmuttknöpfe hatte. Alles war, alle Jahre wieder, so schön, dass mein Vater sogar für ein, zwei Stunden auf seine Witze verzichtete und zu meiner Mutter »Anita« und nicht »Mami« sagte. Diese strahlte (ja, beim Coiffeur war sie auch gewesen) und drückte die Hand ihres Mannes. Sie lächelten sich an, und es kann sein, dass sie sich, in den früheren Jahren wenigstens, einen Kuss gaben. Auch Nora war in einem hübschen Kleidchen, und ich hatte die Knickerbocker mit den Bügelfalten an. Es ist nicht zu verstehen, wieso ich später, als Erwachsener, an Weihnachten regelmäßig krank wurde (Fieber, Durchfall, Panik) und heute noch, nach einigen Jahrzehnten Psychoanalyse, unendlich erleichtert bin, wenn – so um den 3. Januar herum – das Jahr endlich wieder normal weitergeht oder eher neu beginnt und ich erneut wie immer zum Kiosk und ins Kaffeehaus gehen kann. Wie sehr gaben sich meine Eltern Mühe, uns Kinder glücklich zu sehen – und selber glücklich zu sein –, und wie sehr misslang ihnen das. (Einmal, als der Vater mitten aus der Bescherung heraus aufs Klo gegangen und sehr lange nicht zurückgekommen war, suchte ich ihn und fand ihn in seinem Zimmer. Er hockte auf der Couch und schluchzte. »Papa!«, sagte ich und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er machte mir mit der Hand ein Zeichen – »lass nur!« –, und ich ging zum Weihnachtsbaum zurück, vor dem meine Mutter noch immer leuchtete und Nora innig mit ihrem neuen Gummizwerg sprach. Bald war auch ich wieder in
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