Reise zum Rand des Universums (German Edition)
die Familie des Vaters kaum eine. Bei der Mutter, da war etwa Smagga, ein Urverwandter, der so stark war, dass er den Wein aus dem Fass trank, das er mit einer Hand hochhob, und der nebenbei auch noch gegen oder für Napoleon kämpfte. Es gab den negro, unser aller Vorvater, der aus Afrika oder wohl doch eher aus dem damals afrikafernen Süden kam, aus Sizilien vielleicht, und dem wir unser Kraushaar verdankten (Lea, meine Mutter, ich). Oder auch die Geschichte mit den Klavieren – Flügeln! – von Viano, dessen Bewohner sich reichgeschmuggelt hatten und die, als ein Erster ein Piano kaufte, alle auch so einen Steinway oder Bösendorfer erwarben. Einer sogar, behauptete Lea, habe, weil der Flügel keinen Platz im Raum fand, ein Loch in die Hauswand geschlagen, durch das das Flügelende Sommer und Winter ins Freie hinausragte, wie eine Terrasse, auf der die Vögel hockten und von der sie erst aufflogen, wenn der Schmuggler einige Akkorde mit seinen Fäusten in die Tasten hieb. – Und so weiter. Dutzende von Geschichten. – Bei meinem Vater finde ich, auch wenn ich mich sehr anstrenge, gerade zwei karge Anekdoten aus alten Zeiten. Die eine ist, dass seine drei Tanten, als der geliebte Dorfpfarrer starb und durch einen ersetzt wurde, dem sie nicht grün waren, flugs eine eigene Religionsgemeinschaft gründeten, eine Sekte, die gleich auch noch mit ein paar Glaubensdissensen zwischen den Tanten und dem protestantischen Kirchenalltag aufräumte. Die erste Tante – so sagte es mein Vater – predigte, die zweite spielte das Harmonium, und die dritte war das Glaubensvolk. – Die andere alte Geschichte war, dass wir mit Heiri Suter verwandt waren, jenem ersten Radsportgott der Schweiz, der in den Zwanzigerjahren die Fernfahrt München–Zürich mit einer Stunde Vorsprung oder so was gewonnen hatte. – Das ist aber auch schon so ziemlich alles. Mein Vater sprach nie von seiner Familie, kaum je, und noch seltener, nämlich gar nie, fuhren wir in das Dorf seiner Vorfahren, das trotzdem jahrzehntelang als meine Heimat in meinem Pass stand, Gränichen AG , bis es eines Tags, als ich einen neuen Pass kriegte, begründungslos verschwunden war. Nun stand Basel BS da. – Meine Mutter erinnerte sich und uns andauernd an ihre Familienmythen, Lea sowieso. Guido war ein Mythos, schon zu Lebzeiten. Und so wurde ich, ohne es zu wollen, mehr ein Mascioni als ein Widmer. Oder nein, ich wollte es schon auch: Denn die Widmer (das erkannte ich früh) kränkelten oft und neigten zu frühen Toden (Elsi, Otto, Monika, mein Vater dann), während die Mascioni kaum wussten, was ein Schnupfen war, und steinalt wurden.
WIR kriegten tatsächlich bald eine neue Wohnung. Sie war ein ganzes Haus. Meine Mutter war beim Spazierengehen förmlich darübergestolpert, das heißt, sie traf – nach Jahrzehnten wieder – eine Schulfreundin, und der klagte sie ein bisschen – bloße Konversation, kaum mehr –, wie elend das jetzige Wohnen sei, nach dem Paradies auf dem Bruderholz. Kein Garten, kein Platz, keine Schönheit. Die Schulfreundin sagte, ja, das treffe sich gut. Sie suche einen Mieter für ihr Haus – »von dem da, ja!«, denn sie standen vor ihm –, es sei das Haus, in dem sie bis zu dessen Tod mit ihrem Vater gelebt habe, sie und der Papa, aber jetzt, wo er tot sei, sei sie in die Stadt gezogen und sehe nur noch ab und zu nach dem Rechten, jeden Abend, und meine Mutter könne es haben. Die luchste durch die dichten Büsche an der Hecke und sah weit hinten ein paar Fenster und einen großen Balkon im ersten Stock. Sie konnte das Wunder kaum glauben, vor allem, als die Schulfreundin den Mietpreis nannte, irgendetwas wie 600 Franken im Monat, weniger als für die Wohnung an der Bettingerstraße. Ein großer Garten war auch dabei! Kein Wunder, dass meine Mutter die Bemerkung der Freundin zwar hörte, aber kaum ernst nahm. Nicht wörtlich jedenfalls. Nämlich, dass sie wünsche, dass alles so bleibe, wie es der Papa noch gesehen und geliebt habe. Alles, alles wie es der Vater. Er war ein Arzt gewesen, so wie sie eine Ärztin war. Doktor Hedwig Schaub. Sie wollte Fräulein genannt werden, Fräulein Doktor. Nicht Frau. (Meine Mutter nannte sie Hedi.) Sie sah nicht eigentlich wie ein Fräulein aus, allerdings auch kaum wie eine Frau. Ein Wesen eher, ein Troll in unförmigen Kleidern und mit nie gekämmten Haaren. Ihr Hund hieß Nobs, sie war nie ohne ihren Hund.
Fräulein Doktors leichthin gemurmelte Bemerkung, dass das Haus so bleiben
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