Reise zum Rand des Universums (German Edition)
des Mittelmeers entlang. In Cannes lernte ich einen Schweden kennen – eins neunzig groß, blond und mit einer Tenorstimme wie Jussi Björling –, der eine keineswegs mehr junge Dame kannte, die so sehr wie Simone Signoret aussah, sprach und rauchte, dass sie vielleicht Simone Signoret war. Sicher war sie eine glühende Kommunistin. Ich hockte in ihrer Wohnung in der Altstadt und hörte mich durch ihre Plattensammlung, die ausschließlich aus Kampfliedern von 1789, 1830, 1848, dem Risorgimento, der Russischen Revolution und der Résistance bestand. Plus allerlei Exotischem, Tibet oder Kuba. Auch ging ich mit Tommy mit, nachts, wenn er von Lokal zu Lokal zog und die Gäste und auch mich regelrecht betörte. Er machte ein Heidengeld. Dann fuhr ich weiter, der costa dei fiori entlang, durch Oberitalien, ins Veltlin und endlich von Süden her den Berninapass hoch. In Brusio – dem Heimatort meiner Mutter – wartete ich mehr als zwei Stunden lang am Straßenrand und sah den roten Zügen der Rhätischen Bahn zu, wie sie ihr 360-Grad-Viadukt befuhren. Als ich in La Rösa ankam, waren meine Mutter, mein Vater und Nora just dabei, die Wohnung zu putzen, weil ihre Ferien vorbei waren. Ich hatte mich irgendwie mit den Daten vertan. Ich schrubbte also auch ein paar Böden, als hätte ich die letzten fünf Wochen mit ihnen verbracht. Sowieso musste ich bald wieder weg – wo und wie verbrachte ich die paar überschüssigen Tage? –, weil ich mich mit einem Freund aus Montpellier, einem Engländer namens Clive, am 1. September um 12 Uhr mittags »devant la mairie de San Sebastian« verabredet hatte. Eine doch sehr formlose, beiläufig dahingesagte Abmachung für unsern Plan, ganz Spanien von Norden nach Süden und retour zu bereisen. Südwärts im Innern des Landes mit allerlei Abstechern nach Ost und West, nordwärts der Küste entlang. Tatsächlich gab es in San Sebastián ein Bürgermeisteramt, tatsächlich tauchte – eine Minute vor zwölf – auch Clive auf, aus einem VW winkend, den er in Montpellier noch nicht besessen hatte. Einem schwarzen Käfer, der aussah, als habe er, statt einer Spanien-Reise vor sich, eine Afrika-Safari hinter sich. Rost und Dreck. Ich hatte keinen Führerschein, Clive saß also die ganze Reise über am Steuer und umkurvte dabei einige tausend Schlaglöcher, deren tiefste imstande waren, ein ganzes Auto zu verschlingen. Bei Toledo biss mich eine Wespe in einen Fuß, mein Bein schwoll bis zum Knie hinauf an und wurde blau. Ich delirierte im Fieber, und Clive, der wie ich sicher war, dass es in Spanien keine Ärzte gab und/oder dass man mit einer simplen Blutvergiftung nicht zum Doktor ging, hockte neben mir und übte auf seiner Gitarre immer kompliziertere Flamencos. Ich überlebte. Ich hatte so wenig Ahnung, was eine Diktatur war, dass ich in einer Kneipe irgendwo weit im Süden (Málaga? Sevilla?) laut trompetend die Herrlichkeiten der Demokratie rühmte und kaum begriff, warum die eine Hälfte der Tischgenossen fluchtartig das Lokal verließ und die andere, »psst« zischend, sich über mich warf und mein Gedröhn zu ersticken versuchte. – Horden von bettelnden Kindern, die sich an uns klammerten und nicht einmal zu vertreiben waren, wenn ich sie baseldeutsch anbrüllte. (Wir versuchten es auch mit Geld, dieses verdoppelte aber nur ihren Eifer.) – Einmal wachte ich am frühesten Morgen aus einem bösen Traum auf und sah direkt ins Maul eines Schäferhunds, der mich abschnüffelte. Eine nasse Nase. Hinter ihm zwei Guardia Civil mit ihren schwarzen Hüten und Schusswaffen in den Händen. Sie waren aufs höchste misstrauisch – zwei Landstreicher, die in einem Olivenhain schliefen –, glaubten uns aber endlich, dass wir unschuldige Touristen waren, obwohl sie noch nie einen Touristen gesehen hatten, einen unschuldigen gar. – Gibraltar war unsere südlichste Station. Clive, der Brite, fühlte sich wie zu Hause und bestellte ein Guinness nach dem andern. Ich saß eher befremdet zwischen den Affen und sah nach Afrika hinüber, das fern am Horizont leuchtete. – In Valencia, auf der Rückfahrt bereits, aßen wir die Paella, von der wir schon die ganze Zeit über gesprochen hatten, und sie schmeckte noch großartiger, als wir sie uns vorgestellt hatten. An der Côte d’Azur, zurück in einer Welt, in der wir laut reden durften, trafen wir zufällig auf meinen Freund aus Schweden – Tommy, er war eigentlich Fotograf – und traten gemeinsam mehrere Tage lang vor den
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